Der Roman »Großer Bruder« von Lionel Shriver

Unhappy Meals

Die US-amerikanische Autorin Lionel Shriver hat einen beeindruckenden Roman über das Essen geschrieben. Das Vorbild für den Pro­tagonisten ist ihr Bruder, der vor vier Jahren an krankhafter Fettleibigkeit verstorben ist.

Als die erfolgreiche Unternehmerin Pandora, eine Frau Anfang vierzig, die im US-Bundesstaat Iowa lebt, an diesem Nachmittag zum Cedar-Rapids-Airport fährt, um ihren aus New York angereisten Bruder abzuholen, verläuft das Wiedersehen anders als erwartet. Zuerst hört sie nur seine Stimme: »›He, kennst du den eigenen Bruder nicht mehr?‹ Ich wandte mich zu der vertrauten Stimme um, und es war, als liefe ich mit vollem Tempo gegen eine unsichtbare Glasscheibe. Das Lächeln, das ich zum Empfang vorbereitet hatte, fiel in sich zusammen. Die Muskeln um meinen Mund versteiften sich und begannen zu zucken. › … Edison?‹ Ich blickte in ein rundes Gesicht, so prall, als sei es auf einen Ballon gemalt. Ich glaube, während ich nach den braunen Augen meines Bruders suchte, die unter den schweren Augenlidern fast verborgen lagen, versuchte ich, ihn nicht zu erkennen.«
In den Jahren, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen sind, hat Edison nicht die üblichen paar Kilos zugelegt, so wie Pandora, die schon befürchtet hatte, der große Bruder, den sie als selbstgefälligen, erfolgreichen und schlanken Jazzmusiker in Erinnerung hatte, würde bei der ersten Begegnung über ihren Hüftspeck lästern, nein, Edison hat sein Gewicht mehr als verdoppelt. Sein Hintern passt kaum auf den Autositz, teure Designermöbel krachen unter seinem Gewicht zusammen und seine Kleidungsstücke wirken wie Zelte. Wenn Edison nicht gerade raucht, nimmt er möglichst kalorien- und fettreiche Nahrungsmittel zu sich. Manchmal heimlich, oft vor den Augen der anderen. Edison ist fettsüchtig. Eindringlich und anschaulich schildert die US-amerikanische Schriftstellerin Lionel Shriver Persönlichkeit und Alltag des dicken Mannes sowie die Folgen, die seine Esssucht für die gesamt Familie hat. Oft weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Shriver hat bereits in ihrem vielbeachteten Roman »We Need to Talk About Kevin« ihre Meisterschaft in der Schilderung komplexer emotionaler Ausnahmesituationen bewiesen. In dem 2003 erschienenen Buch beschreibt sie die Taten eines jugendlichen Amokläufers aus der Perspektive seiner Mutter, die ihr Kind liebt und zugleich hasst. 2011 wurde der Roman mit einer beeindruckenden Tilda Swinton als Hauptdarstellerin verfilmt.
In »Großer Bruder« geht die Autorin noch dichter an das Geschehen heran. Shriver weiß genau, wovon sie spricht. Ihr stark übergewichtiger Bruder ist das Vorbild für die Figur des Edison. Als Shrivers Bruder nach einer Operation Hilfe brauchte, klingelte bei ihr das Telefon. »Wie viel muss ich für meine Angehörigen tun, wenn die Gefahr besteht, dass sie sich zu Tode essen?« fragte sich die Autorin damals. Doch letztlich musste sie diese Fragen nicht mehr beantworten. Ihr Bruder starb noch im Krankenhaus an den Folgen der Fettsucht.
Anhand der Figur der Erzählerin Pandora spielt die Autorin das Dilemma der Angehörigen von Süchtigen durch. Als sich Edisons Besuch nach zwei Monaten seinem Ende zuneigt, mag Pandora ihn nicht fett und mittellos nach New York ziehen lassen und trifft eine folgenschwere Entscheidung: Sie wird ihre eigene Familie für einen begrenzten Zeitraum verlassen, um ihren Bruder einer Radikaldiät zu unterziehen. Sie gibt ihr Leben auf und legt sich mit ihrem Mann an, um die Pfunde bei ihrem Bruder purzeln zu sehen und sein Leben zu retten.
»Ich bat um Block und Bleistift«, schildert die Erzählerin ihren Plan, »und stellte die folgende Rechnung an: 175–75=100 abzunehmende Kilo: 100 mal 7000 Kalorien pro Kilo machte 700 000 Kalorien, die wir zu vernichten hatten. Ich schätze, dass Edison täglich etwa 3 000 Kalorien verbrannte – zunächst mehr, dann weniger. 3 000 minus die 800 verzehrten Kalorien ergab einen täglichen Fehlbetrag von 2 200 Kalorien. Und 700 000 geteilt durch 2 200 ergab 318,18 Tage.«
Fast ein Jahr lang leben und hungern die Geschwister von nun an gemeinsam in einer karg möblierten Zweizimmerwohnung in New York, denn auch Pandora nutzt die Gelegenheit, um ihre »überflüssigen« Pfunde loszuwerden – und wird süchtig nach flüssiger Diätnahrung.
Nicht nur der übergewichtige Bruder ist vom Essen geradezu besessen. Anders als bei Edison führt dieser Zwang bei Pandora aber nicht zu grenzenloser Völlerei, sondern zu permanenter Selbstkontrolle, die lediglich in »schwachen Momenten« scheitert: »Ich habe insgesamt weniger über meinen Mann nachgedacht als über das Mittagessen. Rechnet man noch die Zeit hinzu, in der ich mir wegen meiner Schwäche für Zitronen-Baiser-Tarte Vorwürfe gemacht habe, oder schwor, am nächsten Tag aufs Frühstück zu verzichten, so scheint es, als drehte sich mein Leben um nichts anderes als ums Essen«, bekennt die Erzählerin.
Den Gegenpart zum esssüchtigen Edison verkörpert Pandoras Ehemann Fletcher, der ausschließlich gesundes und kalorienarmes Essen zu sich nimmt. Es scheint, als sei Nahrung für Fletcher eine Art Gift, das man lediglich in geringen Dosen zu sich nehmen darf. Nicht nur Edison, auch Pandora und die zwei halbwüchsigen Kinder Tanner und Cody bezeichnen den Familienvater als »Ernährungsnazi«. Mediziner würden den Mann einen Orthorektiker nennen.
Anorexie, also Magersucht, Adipositas, also Fettsucht, und Orthorexie, die zwanghafte Beschäftigung mit vermeintlich gesundem Essen, gehören für Shriver zusammen. Doch was ist das für eine Gesellschaft, die solche Verhaltensmuster hervorbringt? »Ich vermute«, sagte die Autorin in einem Interview, »dass wir auf gewisse Weise Sex durch Essen als das ultimative Tabu ersetzen. Sex ist so normal geworden, dass wir es schon fast satt haben. Also wenden wir uns dem Essen zu«. Ferner sagt sie: »Es gilt heutzutage als gewagter, ein großes Stück Schokoladentorte zu essen, als zu dritt Sex zu haben.«
Weil Essen in der Diktatur der Dünnen zu etwas Verbotenem geworden sei, gelten Ernährungsbewusste wie Fletcher als Vorbild und der dicke Edison, aber auch Pandora mit ihrem gefühlten Übergewicht, wird als gescheitert angesehen: Können sich diese Menschen nicht etwas mehr kontrollieren? Muss man denn wirklich so dick werden – und bleiben? Wichtig sei auch die soziale Komponente, sagt Shriver. Vor allem Angehörige der sozialen Unterschicht sind von Fettsucht betroffen. Nicht etwa, weil sie es nicht besser wüssten, sondern weil sie nichts mehr zu verlieren und auch nichts mehr zu gewinnen hätten: »Man ist fatalistischer, man hat weniger Kontrolle über sein Leben, man lebt mehr im Moment. Das klingt erst mal gut, ist es aber nicht, wenn es bedeutet, dass man nicht in der Lage ist, seine Befriedigung hinauszuzögern. Bei diesem Belohnungsaufschub geht es um eine Investition in die Zukunft. Die reichen, schlanken Menschen investieren in ihre Zukunft. Sie betrachten ihre Figur als eine Form von Macht. Sich fit und gepflegt zu halten, gibt einem jede Menge gesellschaftliche Pluspunkte.«
Gibt es keine wichtigeren Themen im Leben als das Essen? Nicht nur die Leser fragen sich das am Ende eines Buches, das sich zu einem Großteil am Esstisch und vor dem Kühlschrank abspielt. Auch Pandora und ihre nahrungsfixierte Familie sind am Ende zu der Einsicht gelangt: »Heute langweilt uns die Debatte, was man essen sollte und was nicht, zu Tode.« We need to talk about something else.

Lionel Shriver: Großer Bruder. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Piper-Verlag, München 2014, 336 Seiten, 19,99 Euro