Über die Islamisierung der Türkei

Erdotürk, nein danke

Der Aufstand in der Türkei gegen den autoritären Regierungsstil der AKP ist ein Zeichen gesellschaftlicher Veränderung.

»Türkischer Frühling« oder »Wutbürger in Istanbul«? An beiden von den hiesigen Medien gern benutzten Formeln für die Proteste in der Türkei ist etwas dran, aber auch einiges schief. Getragen wurden die Proteste in Istanbul, Izmir, Ankara und anderen Städten wesentlich von einer jungen, gebildeten Generation, die sich mehrheitlich fernab der der traditionellen linken Gruppen und der Gewerkschaften über soziale Medien organisierte. Dieses Phänomen trifft auch auf die Revolten der »Arabellion« in Tunesien und Ägypten zu. In den Zentren der Türkei, vor allem in Istanbul, ist zudem eine neue urbane Mittelschicht entstanden, der Umweltschutz, der Erhalt einer lebenswerten städtischen Umgebung und eine gute Lebensqualität wichtig sind. Die von der AKP-Regierung betriebene Sanierungspolitik läuft allerdings nicht nur solchen immateriellen Werten zuwider, sondern vertreibt auch ärmere und oft ohnehin marginalisierte Bevölkerungsgruppen, etwa Roma im Viertel Sulukule, aus ihren Wohnquartieren. Die sozialen Kämpfe gegen die brachiale Privatisierungs- und Kapitalisierungspolitik der AKP verbinden sich in den gegenwärtigen Protesten mit dem, was man hierzulande gerne als »Bürgergesellschaft« bezeichnet.

Die von Recep Tayyip Erdoğan betriebene Islamisierung der Türkei ist eine weitere Ursache der Wut, die sich jetzt entlädt. Das Vordringen von Kopftuchträgerinnen an den Universitäten und in der Öffentlichkeit, Blasphemieprozesse gegen prominente Künstler wie den Pianisten Fazıl Say und Intellektuelle, überhaupt die immer stärker werdende islamische Tugendwächterei der AKP-Regierung, führen schon länger zu Protesten säkular eingestellter Menschen in der Türkei. Zuletzt hatte Erdoğan den Unmut säkularer Türkinnen und Türken mit der Ankündigung erregt, den Alkoholverkauf erheblich einzuschränken. Auch dagegen fanden bereits vor Beginn des jetzigen Aufstands Aktionen wie ein öffentliches Protesttrinken statt.
Überhaupt gebärdet sich Erdoğan, als wolle er dafür sorgen, dass demnächst anstelle des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk er selbst als eine Art »Erdotürk« verehrt werde. Im Zuge seiner Kampagne gegen Alkohol sprach er kürzlich in einer Moschee sogar abfällig davon, dass die bisherigen Alkoholgesetze von »zwei Säufern« gemacht worden seien. Damit war auch der an den Folgen seines Raki-Konsums verstorbene Republikgründer gemeint. Für solch eine Bemerkung hätte man noch vor kurzem wegen »Verunglimpfung des Türkentums« vor Gericht landen können. Doch dort finden sich derzeit eher die Kritikerinnen und Kritiker der autoritären islamischen Gesellschaftsformierung unter Erdoğan wieder. Hunderte Studenten und 80 Journalisten sitzen in den Gefängnissen, Zensurmaßnahmen sind verstärkt worden, zahlreiche, teils prominente Journalisten verloren auf Druck der Regierung ihre Jobs. Exemplarisch für diese Entwicklung steht der erst vor kurzem wieder freigekommene Journalist Ahmet Şık (Jungle World 16/2012), der wegen eines kritischen Buchmanuskriptes über die der AKP nahestehende Gülen-Bewegung der Verschwörung angeklagt und bei den jetzigen Protesten offenbar verletzt wurde.
Şık hatte sich zunächst mit seinen Enthüllungsreportagen über die als »Ergenekon« oder »tiefer Staat« bekannten Verbindungen zwischen Militär, Geheimdiensten, Rechtsradikalen und Mafiaorganisationen einen Namen gemacht. Das Ergenekon-Verfahren gegen diverse Offiziere und ihre Unterstützer, denen unter anderem Putschpläne gegen die AKP-Regierung in deren erster Amtszeit zur Last gelegt werden, schrieb sich Erdoğan zunächst als Aufarbeitung der in den achtziger Jahren im Zusammenhang mit der Bekämpfung der PKK begangenen Menschenrechtsverletzungen gut. Schnell wurde jedoch klar, dass die Ergenekon-Ermittlungen zu einer Generalabrechnung mit jeglicher Opposition gegen die AKP gerieten, bei der sich neben einigen Offizieren auch zahlreiche liberale und linke Journalisten und Vertreter einer säkular-liberalen Staatsauffassung auf der Anklagebank wiederfanden.
Die Bedeutung dieser Vorgänge für die derzeitige Protestbewegung liegt auf der Hand. Manifestiert sich doch in ihnen beispielhaft die Erneuerung der autoritären und Racketherrschaft in der Türkei unter islamischen Vorzeichen, die die anfänglichen Demokratisierungserfolge der AKP-Regierung längst überlagert hat. Der autoritäre Gestus erstreckt sich selbst auf das einzige Gebiet, in dem Erdoğan zuletzt noch als politischer Reformer Erfolge erzielen konnte: den Kurdenkonflikt. Noch während mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan verhandelt wurde, verhaftete man reihenweise in der kurdischen Sache engagierte kritische Intellektuelle wie den linken Verleger Ragıp Zarakolu unter dem Vorwurf, die Errichtung eines kurdischen Parallelstaats zu betreiben. Auch in den kurdischen Gebieten selbst gingen die Ordnungskräfte weiterhin brutal gegen die Bevölkerung vor. Der mittlerweile von einer Art Geheimdiplomatie institutionalisierte Verhandlungsprozess mit der PKK stellt sich weitgehend als Deal zwischen der AKP-Staatsführung und der nicht minder autoritären PKK-Führung dar, bei dem demokratische Mitsprache wenig gefragt ist. Erschwerend kommt der begründete Verdacht dazu, Erdoğan wolle sich durch eine Übereinkunft mit der PKK kurdische Stimmen für ein Verfassungsreferendum sichern, das die Befugnisse des Staatspräsidenten erheblich ausweitet. Gilt es doch als ausgemacht, dass Erdoğan nach dem Ende seiner Amtszeit als Ministerpräsident das Amt des Staatspräsidenten anstrebt.

Der Albtraum jedes strammen Kemalisten droht sich daher zu erfüllen: Islamisten und Kurden verbünden sich, um die Fundamente der von Atatürk begründeten Republik zu untergraben. Trotz ihres gegen die Islamisierungspolitik der AKP gerichteten Impetus können die gegenwärtigen Proteste dennoch keinesfalls als im Kern kemalistisch oder gar nationalistisch und antikurdisch eingestuft werden. Kemalistische Organisationen und Parteien wie die CHP traten bei den Protesten zu Beginn ebenso wenig in Erscheinung wie traditionelle linke und linksradikale Gruppen. Das unterscheidet die jetzigen Ereignisse von den großen Anti-AKP-Demons­trationen etwa vor der Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten 2007, die von kemalistisch-nationalistischen Vereinigungen und Parteien geprägt waren. Es dauerte auch fast eine Woche, bis sich den Protesten große linke Arbeiterorganisationen wie die Gewerkschaftsverbände KESK und DISK anschlossen.
Inzwischen sind zwar die Flaggen vor allem der kemalistischen CHP, aber auch der linken Gewerkschaften und Parteien, auf den Taksim-Platz zurückgekehrt. Dass sie dort überhaupt wieder wehen können, ist aber dem anfänglichen, nicht parteigebundenen Protest zu verdanken. Dass dieser den Rückzug der Polizei erzwang, ist als historischer Sieg und Erneuerung eines republikanischen Selbstverständnisses von unten zu bezeichnen. Nur in Kenntnis der historischen Bedeutung des Taksim-Platzes als umkämpftes Symbol der Republik kann die ganze Bedeutung dieser Ereignisse erfasst werden. Zunächst war er ein Ort verordneter Manifestationen des kemalistischen Staats, ab den sechziger Jahren dann vor allem Zentrum von Kundgebungen der erstarkenden Linken. Dann kam das vermutlich von Kräften des »tiefen Staats« verübte Massaker am 1. Mai 1977 mit mindestens 34 toten Demonstranten. Es folgte ein erst unter der AKP-Regierung gelockertes Demonstrationsverbot für den 1. Mai, das fast jedes Jahr linke Gruppen zu brechen versuchen. Nur durch diese republikanische Erinnerung hindurch kann man verstehen, was für eine Provokation es bedeutet, dass Erdoğan nach der Eroberung des Taksim-Platzes durch die Protestbewegung die Ankündigung wiederholte, dort eine Moschee bauen zu wollen.