Die große Wut

Im europäischen Protestranking übernimmt Frankreich erneut die Spitze.

Die Scharmützel mit den Flics häufen sich. Seit Ende voriger Woche haben überwiegend Schüler mit Schulblockaden und wilden Demonstrationen Dynamik in den Konflikt um die Rentenreform gebracht. Am Dienstag, dem großen Aktionstag dieser Woche, schmissen unter anderem Hafenarbeiter in Le Havre Steine auf die Tränengas verschießenden Polizisten. Ansonsten herrschten im ganzen Land »französische Verhältnisse« in einem Ausmaß, wie man sie seit Jahrzehnten nicht gesehen hat: Hunderte blockierte Schulen und Demonstrationen, Streiks in privaten Unternehmen und im öffentlichen Dienst, LKW-Fahrer probten auf den Autobahnen die »Operation Schneckentempo«, an den Tankstellen wurde der Sprit knapp, etwas verspätet traten auch Studenten mit Besetzungsaktionen in den Reigen ein.
Doch Präsident Nicolas Sarkozy gibt sich unbeeindruckt und hofft darauf, dass über die Herbstferien die Proteste abflauen. Er will in dem Konflikt gewinnen, um sich für die Präsidentschaftswahlen 2012 günstig zu positionieren. Seinen Gegnern von der Opposition und den Gewerkschaften bleibt nichts anderes übrig, als diese Herausforderung anzunehmen. Sie haben zugleich das Problem, dass ihnen die Situation aus der Hand zu gleiten droht. Noch in dieser Woche soll die Rentenreform den Senat passieren. Eine weitere Zuspitzung des Konflikts scheint unvermeidlich.
Da ist guter Rat teuer. »Die Menschen leben länger«, gab ausgerechnet die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am Dienstag Sarkozy Schützenhilfe. »Und wenn wir eine vernünftige Rente garantieren wollen, dann muss die Tatsache, dass wir länger leben, auch dazu führen, dass die Lebensarbeitszeit länger wird.« Das wird ihr vielleicht im narkotisierten Deutschland der Wald- und Wiesenproteste, die – wie bei »Stuttgart 21« – medial bereits zum »Bürgerkrieg« hochgejazzt wurden, abgenommen. In Frankreich verfängt das nicht. »In einem Kontext struktureller Arbeitslosigkeit und Prekarisierung der Beschäftigung ist die Figur des garantierten Arbeiters, der die ganze Beitragszeit über einzahlt, marginal geworden«, heißt es etwa in einem Flugblatt aus Montreuil mit dem Titel »Welche Rente für die Prekären? Welcher Streik für die Arbeitslosen?« Und weiter: »Dauerhaft Prekäre, langjährige Sozialhilfeempfänger, Teilzeitbeschäftigte, (…) Papierlose, Langzeitstudenten, abqualifizierte Jugendliche, wir sind schon sehr viele, die aus dem gegenwärtigen Rentensystem ausgeschlossen sind. Wir, wir werden niemals genug einzahlen.« Allen bliebe nur übrig, »wie ein guter Kleinkapitalist in Immobilien, Pensionsfonds oder Privatversicherungen zu investieren«. Doch woher soll das Geld dafür kommen, wenn sich die Mc-Jobs in der Gesellschaft ausbreiten wie eine Ölpest auf dem Meer?
Eines zumindest ist sonnenklar: Die Kritik der Rentenreform führt schnell zu einer Kritik der prekären Arbeit, und von da ist es nicht weit zu einer Kritik der Lohnarbeit, des Kapitals und seines Staats. Schon machen in Frankreich Flugblätter die Runde, in denen eine »generelle Bewegung zur Blockade der Wirtschaft« gefordert wird. Im europäischen Protestranking liegt Frankreich erneut an der Spitze. Und die krisengebeutelten Verwalter der alten Welt in Griechenland, Portugal und Spanien fürchten als erste und völlig zu Recht eine Ansteckung mit der »französischen Krankheit«.