Independent-Lyrik aus Portugal

Hier wohnt die Lyrik

Auf der Suche nach den Independent-Poeten von Lissabon.

An ihm führt kein Weg vorbei: Fernando Pessoa, der Dichter der Kaffeehäuser im Lissaboner Chiado-Viertel. Eine Lichtgestalt im ewigen Halbschatten der morbiden Gassen der portugiesischen Hauptstadt, früher das Zentrum eines Weltreichs, heute – the Empire strikes back – bevölkert von Menschen aus fünf Kontinenten: Mosambikaner, Angolaner, Guinea-Bissauer, Kapverdier, Brasilianer, Bürger aus Macau und Goa. Auf verschiedenen Plätzen des Zentrums, dem Baixo, der nach dem Erdbeben 1755 im Schachbrettmuster neu errichteten Unterstadt, bieten Tagelöhner ihre Dienste an. Die Mosambikaner auf der einen Ecke des Rossio-Platzes vor dem Nationaltheater, die Angolaner auf der benachbarten Praça Restauradores.
In Begleitung von drei Freunden erreichte ich Lissabon zum ersten Mal 1997, genauer gesagt den Bahnhof Barreiro, von dem die Fähren zum Terminal Terreiro do Paço übersetzen. Wir waren im Morgengrauen in Faro an der Algarve aufgebrochen, nahmen einen Zug mit breitem Radstand. Warum eigentlich sind die portugiesischen Züge allein mit sowjetischen Schienen kompatibel? Man hatte Platz genug, die Beine auszustrecken und dem Sehnsuchtsort Lissabon entgegenzufiebern. Endlich in der Stadt, blendete uns die Moderne der Einkaufspassagen. Es war Karfreitag, und deutsche B-Promis nutzten die Gunst der Stunde für einen Stadtbummel. Im Virgin Mega Store stand die damals angesagte Pro-Sieben-Moderatorin Arabella Kiesbauer an einer Hörstation, und oben auf der Burg São Jorge an den Fernrohren der ewige Russland-Korrespondent Gerd Ruge.
Fernab der Touristenrouten und der glitzernden Warenwelt (konterkariert von den pakistanischen Ramschläden in den Nebenstraßen) gab sich Lissabon als zufälliges Konglomerat von Fischerdörfern, durchsetzt mit Palästen und Villen, die heute Museen für Azulejos (Mosaike aus Keramikfliesen) und mittelalterliche Waffen beherbergen. War es der beißende Geruch von Stockfisch, oder verströmten die Mauern tatsächlich Poesie, wie ich mir damals einredete?
Die jungen Dichter, wie ich bald aufgeklärt wurde, stemmen nicht nur das Erbe von Pessoa, sie wählen sich auch andere Vorbilder vom gegenüberliegenden Atlantikufer, Beatpoeten wie Ginsberg, Kerouac, Burroughs und immer wieder Bukowski.
Wir waren im Bairro Alto, jener zweiten rational angelegten Altstadt, die sich über dem Baixo auf dem Hügel erstreckt. Weiter unten hatte es vor einigen Jahren gebrannt, im Chiado, doch inzwischen war – bis auf das durch das Erdbeben von 1755 zerstörte Kloster Convento do Carmo, das als Skelett am Largo do Carmo steht – keine Ruine mehr zu entdecken.
Hier im Zentrum des Nachtlebens hatte die Livraria do Poesia ihre Pforten eröffnet, ein Halbweltort, Zwitter aus Bar, Buchladen und Off-Galerie. Wir bestellten eine gekühlten weißen Oporto und inspizierten die Gedichtbände in den Regalen. Außer uns waren nur die beiden Besitzer anwesend, der Einfachheit halber nenne ich sie den Bärtigen und den Zweifler, ein Duo à la Bad Cop/Good Cop.
Anfangs fiel es mir schwer, die schwülstigen Laute der portugiesischen Sprache hervorzubringen, dunkle Vokale, abgedämpfte Konsonanten und dazwischen Zischlaute. Den Bärtigen oder den Zweifler nach einem Titel zu fragen – undenkbar. Während ich schweigend das Bücherregal abschritt, spürte ich den stechenden Blick des Zweiflers im Nacken. Er hatte mich schon auf der Schwelle des Ladens als Gelegenheitsbarde identifiziert und wusste aus eigener Erfahrung, dass dieser Menschenschlag Bücher aus Prinzip nicht mit Geld aufwiegt, so dass ich wohl oder übel, weil es mich juckte, »Não« mit konkreten Gedichten von Augusto de Campos erstehen musste. Seine Augen glänzten, als ich ihm den 20-Euro-Schein entgegenstreckte.
Als ich das nächste Mal den Laden betrat, stieß er den Bärtigen mit dem Ellbogen an und raunte: »Der Freak, der ›Não‹ gekauft hat.« Seine Blicke ließen mir mehr Freiheit, und die Anthologie »Poesia de Invenção«, herausgegeben von Claudia Daniel, die Sammlung »Melhores Poemas« von Haroldo de Campos und »Idades, Cidades, Divinidades« von Mia Couto aus Mosambik wanderten in meine geräumige Tasche.
2008 empfing uns Lissabon kalt und nass. Es war November, und in den Gassen von Anjos traf man nur Luden und Huren, Geldwechsler und Messerstecher. Durch das Dach der gemieteten Wohnung tropfte es. Wir versorgten uns im German Shop, der nächsten Lidl-Filiale, mit dem Nötigsten: Käse, Wein und Brot. Unsere Nachbarn stammten der Musik nach zu schließen aus aller Welt. Kuduru, eine Fusion aus angolanischen Rhythmen, Hiphop und brasilianischem Funk, drang durch die Mauer.
Am äußersten Ende Europas gelegen, ist Lissabon die Brücke nach Afrika, Asien und zu den West Indies. Auf der Gewürzroute, das Kap Horn umschiffend, nach Goa. Oder den Sklaventrack von »Schwarzafrika« nach Bahía. Die Dekadenz des einstigen Imperiums schwingt in den Gedichten der jungen Poeten mit. Von Verlassenheit ist die Rede, von sinnlos verbrachten Stunden, einer Leere, die sich breit macht und die die Jugend lähmt oder die Zynischen unter ihnen zu Stoikern werden lässt.
Dabei hatte alles so gut angefangen: Junge, aufstrebende Militärs stürzten 1974 das von António de Oliveira Salazar errichtete Regime, den »Estado Novo«, und bereiteten der Demokratie den Weg. In den Mangrovenwälder von Guinea-Bissau wurden die eigentlichen Schlachten geschlagen. Die Guerilla vertrieb die portugiesischen Truppen, die Generäle kehrten mit umstürzlerischen Plänen in die Heimat zurück. Die Nelkenrevolution beendete die Militärdiktatur.
Es war der Kapverdier Amilcar Cabral, der das Feuer der Revolution in die Kolonien Westafrikas gebracht hatte. In Lissabon hatte er Agraringenieurwissenschaften studiert, in Afrika führte er ein Rebellenheer an, bis er heimtückisch ermordet wurde. Er starb zu früh, um als »Schwarzer Che« unsterblich zu werden. Konterrevolution und Gewalt haben das westafrikanische Land bis heute fest im Griff.
»Warum schreibt ihr nicht über Comrade Amilcar?« fragte ich den Bärtigen in der Livraria do Poesia. Er musste schmunzeln. »Politik ist nicht unser Thema«, sagte er. »Es ändert sich nichts, wenn ich wähle, warum sollte ein Vers mehr bewirken?« Er holte sich auch ein Glas und schenkte uns beiden Oporto nach. Der Zweifler zog ein paar Gedichtbände aus dem Regal. »Du suchst etwas Neues?« fragte er. »Das ist das Beste, was wir an jungen Dichtern haben.« Ich blickte auf »Die Lusiaden« von Luís Vaz de Camões, das mittelalterliche Gründungsepos Portugals, und fühlte mich – da mir der portugiesische Humor noch fremd war – gelinde ­gesagt verarscht.
Der Bärtige schien Mitleid mit mir zu haben, er drückte mir drei Gedichtbände in die Hand, »Diques« von Ruí Pedro Gonçalves, »Blues for Mary Jane« von Manuel Freitas und »Portugal, 0« von Ruí Pires Cabral. »Anfänger«, schnaubte er, »aber man spricht über sie, Schürzenjäger und Zechpreller, wenn Du mich fragst, der eine oder andere nur halbverunglückte Vers.«
Im Baixo standen Leute Schlange, die Läden hatten gerade geschlossen, es ist 18 Uhr. Wir blieben stehen und rückten nach und nach einen Schritt weiter in einen kleinen Laden. Drinnen stellte ein dicker Wirt zwei Plastikbecher auf den Tresen und goß eine rote Flüssigkeit aus einer dickbauchigen Flasche. 1 Euro Fünfzig, murmelte er, wir zahlten und fanden uns vor dem Laden in einem Pulk ausgehwilliger Lissabonner wieder, die sich und uns zuprosteten. Es war ein süßer Kirschlikör mit ein, zwei eingelegten Früchten.
Das Viertel Anjos überraschte mit Anonymarchitektur und einem steilen Weg, der zu einer Aussichtsplattform führte, von dem man die Stadt gen Westen überblicken konnte. Aber wenn man tatsächlich gen Westen ginge, die Treppen abwärts Richtung Innenstadt, durchquerte man bald ein Rotlichtviertel, vorbei an einer Gruppe streitender Migranten und erbärmlichen Freiern, und dann der filmreife Einstieg in ein Taxi, das über das Kopfsteinpflaster preschte ohne Rücksicht auf Verluste, die Gassen rauf und runter und sich durchaus auch einmal verirrte.

Die folgenden Gedichte wurden ausgewählt und aus dem Portugiesischen übersetzt von Timo Berger

MANUEL DE FREITAS
Orlando

Wir sind nie zusammen im Blues Café gewesen.Was würde uns dort erwarten?Vielleicht nichts, niemand,die zwölf Mädchen,die dein grauer Schnurrbartzeremonienhaft küsste,in einem Stil, den ich monarchistisch nennen würde.

Er hatte Glück im Unglück,dein Bruder: Aids,eine unangekündigte Abwesenheit.Es war besser, dich nicht zu sehen,reduziert auf das, was uns erwartet,ein Rollstuhl, die Impotenz.Ich würde lieber denken, dassdu mich noch auf ein Bier einlädst,ein letztes – weil du morgenfrüh zur Arbeit musst.

Jetzt, da du dich endlichverändert hastund alle Mädchender Weltdeinen blauen Augen, Halunke,keine Beachtung mehr schenken.

Aus: »Blues for Mary Jane« (&etc, Lissabon, 2004)

RUÍPEDRO GONÇALVES
Die Poesie

Deiche sind große Bauten,die uns vor einer großen Idee schützen,vor einem großen Meer,vor einem Fluss und seinen Zuflüssen.

Deiche wurden errichtet,dort von unserem Blickauf die unsichtbaren Linien eines Körpers,der in der Klarheit einen Ort des Anstands wähnt,der Orientierung.

Deiche trennen das Meer von den Flüssen,den Gemüsegarten von der Streuobstwiese,bringen einen Ort hervor, für das Bleiben,für die Flucht, für das Vergnügen.

Deiche – weil sie Deiche sind – trennenund halten stand.

Aus: »Diques« (Teatro de Vila Real, Lissabon, 2007)

RUÍ PIRES CABRAL
Das Ende des Abenteuers

Am Nachmittag setzte ich mich auf eine Bank im Parkdes Viertels, in dem die Lotusblüten Amseln empfangenund ihre Samen auf den unfruchtbaren,geteerten Plankenweg streuen.

Es ist der erste Sonntag ohne dich,an dem doch alles ist wie an anderen Sonntagen,die Straßen, entvölkert, Gitter über den dunklenSchaufenstern, eine geordnete Welt der Nachbarn,
die vorübergehend fort sind.

Ich lasse in der Kälte ein angebrochenes Vesper zurück,abgelenkt vom sinnlosen Wunsch,der nächste Fremde zu sein, der über die Straßeginge, der nicht einmal den Manteleines Namens besäße.

Und, plötzlich, hey, kehrt sie zurück,nach Monaten, die sie an einem abgelegenen, ungewissenOrt verbracht hat: Ich verschwöre michmit dem finsteren Schatten, der mir ins Ohr flüstert.

Da steht sie, ja, jähund durstig.

Aus: »Portugal, 0« (Rio de Janeiro, Oficina Raquel, 2007)