Blick nach vorn ohne Scham und Zorn

Die Schweiz feiert sich selbst und glaubt, mit der Veröffentlichung "nachrichtenloser Konti" alles wieder gutgemacht zu haben

Nationalfeiertage haben es an sich, von nationalistischem Getöse begleitet zu werden: "Die pauschale Kritik von aussen an der Schweiz gehört zurückgewiesen, und zwar energischer als bisher. Und im Inneren haben wir keinen Anlass zu masochistischer Selbstzerfleischung", verkündete eine von der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) des Kantons Zürich in der Neuen Züricher Zeitung vom 31. Juli geschaltete Anzeige unter dem Titel "Blick zurück in Scham und Zorn?"

Auch die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) der Stadt Zürich mochte einen Tag vor dem Schweizer Nationalfeiertag nicht zurückstehen. Sie lud über eine Anzeige in der NZZ zum Thema "Hatte die Schweiz im Zweiten Weltkrieg politische Alternativen?" zur Diskussion. Und lieferte die Diskussionsgrundlagen gleich mit: Waren denn trotz "vollständiger Umzingelung durch die Faschisten", "des Zwangs zum Import von überlebenswichtigen Gütern", "der Verpflichtung, den Krieg zu meiden" und "täglicher Angst vor dem Überfall" Alternativen überhaupt möglich? Auch gelte es der "Bereitschaft, Verfolgten und Bedrohten zu helfen", zu gedenken, so die SVP-Anzeige, die gleichwohl unterschlägt, daß 30 000 überwiegend jüdische Flüchtlinge ab 1942 an der Schweizer Grenze zurückgewiesen - und damit der Vernichtungspraxis der deutschen Faschisten überlassen wurden. Der berühmte Slogan "Das Boot ist voll" (Bundesrat von Steiger) stammt aus dieser Zeit. Und das, obwohl die Welt seit 1942 anläßlich einer Erklärung der Alliierten auch offiziell über die "Endlösung" Bescheid wußte. Erst 1943, angesichts der Kriegswende wurde die Schweizer Flüchtlingspolitik wieder flexibler, restriktiv blieb sie dennoch.

Das Besondere dieses Schweizer Verteidigungsbündnisses - von linksliberal bis rechtsradikal - gegen in- und ausländische Kritiker ergibt sich daraus, daß doch in der jüngsten Zeit scheinbar alles richtig gemacht wurde. Ein Fonds in Höhe von 470 Millionen Schweizer Franken wurde für die Opfer der Shoah eingerichtet, eine mit sieben Milliarden Franken ausgestattete Stiftung für Solidarität wurde von der Schweizer Regierung in Aussicht gestellt, nationale und internationale Kommissionen sollen für Aufklärung sorgen. Mitte Juli kam erstmals eine "Entschädigungszahlung im Zusammenhang mit zurückgehaltenen Vermögen" zustande. Eine jüdische Familie, deren Geld rund fünfzig Jahre lang auf einer Schweizer Bank lag, erhielt rund 250 000 Franken von der Schweizer Union-Bank. Auch die Veröffentlichung einer Liste von "nachrichtenlosen Konti" (mit einem Gesamtumfang von etwa 60 Millionen Schweizer Franken) durch die Schweizerische Bankiervereinigung sollte der internationalen Kritik und mehreren Sammelklagen von mehrheitlich US-amerikanischen Juden gegen die Schweizer Banken entgegenwirken. Im Internet (http://www. dormantaccounts.ch) und in den 40 größten Zeitungen in 28 Staaten wurden Ende Juli insgesamt 1 872 "nichtschweizerische Kunden, die vor Ende des Zweiten Weltkrieges Konti bei Banken in der Schweiz eröffneten", aufgeführt und gebeten, ihre Ansprüche auf die veröffentlichten Konten nun anzumelden.

Doch die Flucht nach vorne ist gründlich mißlungen: Nur etwa 20 Prozent der genannten Kontobesitzer seien Juden, so Ephraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. Edgar Bronfman, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, ist darüber hinaus überzeugt, daß die meisten Konten noch gar nicht entdeckt seien.

Die Liste liest sich zum Teil wie ein Namenskatalog der faschistischen Internationale der dreißiger und vierziger Jahre. Francos Schwager Ram-n Serrano Suner findet auf ihr ebenso seinen Platz wie Funktionäre der kroatischen Ustascha und Vojtech Tuka, bis 1945 Ministerpräsident des Nazi-Vasallenstaates Slowakei. Auch vermuten die Simon-Wiesenthal-Zentren in Jerusalem, Wien und Los Angeles zahlreiche deutsche Faschisten als Inhaber nachrichtenloser Konten: Elise Eder könnte ein Pseudonym der Ehefrau des österreichischen SS-Chefs Ernst Kaltenbrunner sein, hinter dem Namen Willi Bauer wird der Kommandant des KZ Theresienstadt, Anton Burger, vermutet. Bei Ernst Hofmann könnte es sich um Hitlers "Reichsbildberichterstatter" Hoffmann handeln, bei Karl Jäger um den SD-Chef von Litauen, bei Kurt Herrmann um den Juwelier von Herrmann Göring. Hugo Boss, Gründer einer inzwischen recht bekannten Bekleidungsfirma und seit 1935 Profiteur aus der Produktion von SA-, SS- und HJ-Uniformen, ist ebenfalls erwähnt. Auch die zentrale NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg und die Schweizeische Bankiervereinigung überprüfen die Liste auf weitere Nazis. Zwischen Opfern und Tätern finden sich auch Männerchöre, Vereine und diverse Einzelpersonen.

"Man macht sich über uns lustig", kommentierte die israelische Tageszeitung Yedioth Acharnot die Vermischung von Tätern und Opfern. Denn daß die Erben der Vernichter ihre Konten in der nächsten Zeit problemlos abräumen, ist zu erwarten. Dagegen wurden Juden, die ihre Ansprüche auf Depotkonten in der Schweiz geltend machen wollten, jahrzehntelang wegen unvollständiger oder fehlender Papiere abgewiesen. "Wo haben Sie den Totenschein des angeblichen Kontoinhabers?" lautete bis jüngst die Standardfrage von Schweizer Schalterbeamten und Sachbearbeitern bei entsprechender Nachfrage. "Daß die Verantwortlichen der Einsatzkommandos (...), die Verwalter von Auschwitz, Majdanek, Treblinka und Mauthausen, die SS-Mörder in den Ghettos für ihre Opfer keine Totenscheine ausgestellt haben, will dem helvetischen Schalterbeamten scheinbar nicht in den Kopf", beschreibt Jean Ziegler diese Situation in seinem Buch "Die Schweiz, das Gold und die Toten".

Auch die geplante Solidaritätsstiftung der Schweizer Regierung ist mittlerweile wieder stärker in die Kritik gekommen. Der Multimillionär und rechtspopulistische SVP-Nationalrat Christoph Blocher stellte im zweiten Anlauf seinen Aufruf zu einer "Jubiläumsspende Schweiz" vor. Nachdem zuerst 100 "Reiche" je eine Million Franken spenden sollten, begnügt sich Blocher nun mit 400 wohlhabenden Personen, die mindestens je 100 000 Franken bis zum 31. Dezember 1997 einzahlen sollen. Seine Million sei gesetzt, so Blocher bereits im Juni. Diese Aktion sei notwendig, um "die Hohlheit, das unappetitliche Sprechen über Solidarität aufzuknacken". "Aus Dankbarkeit dafür, daß es uns gutgeht", solle "echte Solidarität" geübt werden, die nicht aus "Schuldgefühlen oder auf Druck von außen" entstehe. Wenn sich das Vorhaben realisieren ließe, so könne die "Jubiläumsspende Schweiz" die Solidaritätsstiftung der Schweizer Regierung ersetzen, so Blocher. Die Pressekonferenz zu Blochers zweitem Anlauf fand - gut abgestimmt und inszeniert - kurz vor dem Schweizer Nationalfeiertag statt.