Wie sich die ÖTV selbst abschafft

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Zwei Berliner Wissenschaftler und der Wiesbadener Oberbürgermeister haben sich dieser Tage für einen neuen Typus von Tarifvertrag ausgesprochen. Mit den üblichen Ritualen um das Feilschen von Zehntelprozent hinter dem Komma soll Schluß sein, statt dessen wird eine "solidarische Arbeitsumverteilungsstrategie" vorgeschlagen. Tarifvertraglich geregelter Lohnverzicht soll vorzeigbare öffentliche Dienstleistungen mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze verbinden. Das heißt, der Chef der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Herbert Mai, wird die Geister, die er rief, nicht mehr los.

Zunächst schlug Mai im Februar des Jahres vor, durch Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich neue Stellen zu schaffen. Im Mai setzte Mai dann nach, das Problem müsse bald angegangen werden, die ÖTV wolle die Tarifrunde 1998 auf Herbst 1997 vorziehen. Nun wird Mai öffentlich in die Zange genommen.

Wie naiv - oder wie verkommen? - muß eigentlich ein Gewerkschaftsführer sein, wenn er den Arbeitgebern Verhandlungen anbietet, ohne daß er dafür ein Mandat, geschweige denn ein Druckmittel hat? Die Tarifverträge laufen erst Ende des Jahres aus, solange herrscht "Friedenspflicht" - weder Warnstreiks noch reguläre Streiks sind möglich. Die öffentlichen Arbeitgeber können die ÖTV also am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Selbst wenn die Mitte September beginnenden Verhandlungen nichts bringen, ist es fraglich, ob Mai ab Januar 1998 seine Truppen mobilisieren kann. Tief sitzt noch der Frust ob der vergeigten 93er Tarifrunde.

Nach tagelangen Streiks wurde der Abschluß von der Gewerkschaftsbasis in der Urabstimmung angelehnt. Die Gewerkschaftsführung sah großzügig über das Votum hinweg, und die damalige Vorsitzende Monika Wulf-Matthies (MWM) zog als EU-Kommissarin nach Brüssel.

Als sich Herbert Mai Anfang 1995 für den ÖTV-Vorsitz bewarb, wurde er als "Mann der Basis" gefeiert. Das mag für seine Zeit als Bezirksvorsitzender von Hessen stimmen, seit er auf dem Stuttgarter Chefsessel sitzt, ist davon nichts mehr zu spüren. Ausgerechnet aus seiner hessischen Heimat woht Mai der Wind jetzt scharf ins Gesicht. Ohne Mitgliederdiskussion und an der großen Tarifkommission vorbei, sei sein Vorstoß eine grobe Verletzung der Grundsätze innergewerkschaftlicher Demokratie, heißt es in einer Resolution der ÖTV Darmstadt; Mai wird der Rücktritt nahegelegt. Aber: Was kümmert es eine deutsche Eiche, wenn eine Sau sich an ihr reibt? Den freien Fall in die Arbeitslosigkeit müssen Gewerkschaftsfunktionäre nicht befürchten - siehe MWM -, wenn sie von der Basis nicht mehr geliebt werden.

Merkt der einstige Stamokap-Apologet eigentlich, daß er mit seiner heutigen Politik die ÖTV in eine Legitimationskrise führt? Daß man diese Gewerkschaft noch braucht, ist nur noch mit Mühe zu erkennen. Streng genommen betreibt Mai das Schmutzgeschäft der Arbeitgeber, indem er sich dem angeblichen Diktat der leeren Kassen beugt und wie ein Hohepriester der Marktwirtschaft Verzicht predigt. Mai bringt nicht nur seine eigene Gewerkschaft in Erklärungsnöten. Vom Strudel der ÖTV-Tarifpolitik sind rund 8,2 Millionen Beschäftigte im öffentlichen und halböffentlichen Dienst betroffen. Wird hier verwirklicht, was im Elfenbeinturm der FU Berlin und der ÖTV-Zentrale an Denkspielen ausgebrütet wurde - ausdifferenzierter Lohnverzicht von unten nach oben zwischen zwei und zehn Prozent - kommt das einem Umbruch gleich. Was für ein Drittel aller Beschäftigten billig ist, kann doch für die restlichen zwei Drittel nur recht sein, werden Hundt, Henkel und Co. nun verkünden.