Hohe Schule Rosenberg

Beute der Nazis: Neue Forschungen geben einen Überblick über die deutschen Kunstraubzüge vor und während des Zweiten Weltkriegs

Während man noch die Leichen zählte, die die Deutschen in Europa zurückgelassen hatten, fiel es kaum jemandem ein abzuschätzen, welche zum Teil wertvollen Sachen zerstört und verschleppt wurden. Daß außer dem Bibliothekar auch die Bibliothek, außer dem Kunstsammler auch seine Sammlung den Nazis in die Hände gefallen war, schien nicht berichtenswert.

Vielleicht hätte sich niemals jemand die Zeit genommen, diese Seite der Zerstörung zu erhellen, wären die deutschen opinion leaders nach 1989 nicht darauf verfallen, "Beutekunst" zurückzufordern. Gerade hat der Bonner Ministerialdirigent Waldemar Richter die spekulative Zahl von 4, 6 Millionen Büchern und 200 000 Kunstwerken genannt, "besonders wertvolle" Bestände, die dem "Raub" der Sowjets zum Opfer gefallen seien. Gemeint sind Kompensationen, die die Sowjets nach dem Kriege eingezogen hatten. Der durchweg freche Ton, in welchem die Erben der Hitlerei Wiedergutmachung von den Opfern fordern, soll signalisieren, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs stünden wieder zur Disposition.

Apodiktische Behauptungen wie die, die edle Wehrmacht habe sich nicht an Raubzügen beteiligt, die Nazis hätten sich ohnehin kaum an fremden Kulturgütern vergriffen, das Geraubte sei den Bestohlenen zurückerstattet worden, waren anfangs kaum zurückzuweisen, weil Forschungen zum Thema nicht vorlagen. Wer sich in Deutschland ein wenig auskennt, ahnte aber, daß es sich nur um Lügen handeln kann; erst jetzt wissen wir sicher, daß es welche sind.

Einen ersten Überblick hatte Lynn H. Nicholas in ihrer lesenswerten Studie "The Rape of Europa" (N.Y. 1994, dt. 1995) geboten. Deutlich wurde zunächst, wie systematisch die Nazi-Kunstraubzüge vonstatten gingen. Vor allem drei Organisationen kümmerten sich in Zusammenarbeit mit Wehrmacht, SS und Auswärtigem Amt um das Aufspüren, Klassifizieren und Abtransportieren bzw. Zerstören von Kunstwerken und Archiven: der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR), das Sonderkommando Künsberg und das SS-Ahnenerbe Heinrich Himmlers.

Erst in Deutschland selbst - vor allem in Bibliotheken jüdischer und sozialistischer Organisationen -, dann in den eroberten Gebieten des westlichen Europa und schließlich in Osteuropa und auf dem Gebiet der Sowjetunion wurden generalstabsmäßig Werte sichergestellt. Waggonweise gingen Gemälde, Skulpturen, Handschriften, Bibliotheken in alte und neue deutsche Museen, Sammelstellen und Institute. Anderes wurde verkauft, an hochrangige Nazis verschenkt oder deutschen Händlern und Antiquaren überlassen.

Nicholas' Überblick wird inzwischen von detaillierteren Untersuchungen bestätigt. Anfang des Jahres gab die seit 1992 in Bremen arbeitende Forschungsstelle Osteuropa Ulrike Hartungs Bericht "Raubzüge in der Sowjetunion" heraus. Hartung befaßt sich ausschließlich mit dem Sonderkommando Künsberg. Eberhard Freiherr von Künsberg war ein rasch im Nazi-System aufgestiegener Karrierist, ihm unterstand eine 360 Mann starke Truppe, die im Windschatten der Wehrmacht durch die Sowjetunion reiste und "Feindmaterial" konfiszierte.

Hartung gelingt es nachzuweisen, daß Künsberg mit ausdrücklicher Billigung des Oberkommandos der Wehrmacht handelte. Ein Befehl vom 4. Juli 1942 stellte sicher, daß ihm jede erdenkliche technische und personelle Hilfe zuteil wurde. Der gewiefte Freiherr wußte aber auch die Waffen-SS, die Geheime Feldpolizei, das Auswärtige Amt und schließlich sogar Hitler selbst für seine Raubzüge einzuspannen. Künsberg kam dabei zupaß, daß die verschiedenen Gliederungen des Nazistaates sich untereinander Konkurrenz machten. Von Nimmersatt Göring, der seine gewaltige Kunstsammlung ausbaute, über die Wehrmacht, die zur Sondierung des Feindes Karten und Archivalien benötigte und mit Trophäen ihre Kriegserfolge dokumentieren wollte, bis hin zu Künsberg selbst, der mit opulenten Geschenken sich prominente Nazis gewogen zu machen suchte, gab es viele, die sich um das Diebesgut rissen.

Auf die enorme Konkurrenz der verschiedenen Organisationen des Nazi-Staates untereinander weist auch der niederländische Forscher Peter M. Manasse in einer Untersuchung hin, für die er in diesem Jahr den Victorine van Schaick-Preis erhielt. Seine Synopse "Verschleppte Archive und Bibliotheken" ist gerade in einer (leider sehr ungelenken) deutschen Übersetzung erschienen.

Manasse konzentriert sich ganz auf die Aktivität des ERR und kann für diese vor allem ideologische Motive plausibel machen. Nicht um - wie bei Künsberg - der Selbstbereicherung, Spionage und Machtdemonstration willen, ließ der Nazi-Chefideologe Alfred Rosenberg rauben, sondern um Material zur Stützung seines Gedankengebäudes beizubringen.

Rosenberg war dabei, ein Netz von Instituten und Bibliotheken zu knüpfen, die sich seiner nationalsozialistischen Lehre und insbesondere der "Erforschung der Judenfrage" widmen sollten. Zu diesem Behufe richtete er in der Bockenheimer Landstraße zu Frankfurt/Main seine "Hohe Schule" ein, die, so Manasse, "nach dem Endsieg einen zentralen Platz in der nationalsozialistischen Lehre und Erziehung" einnehmen sollte. Ebenfalls in Frankfurt, außerdem in Paris, Rom und Budapest, ließ er Zweigstellen seines "Instituts zur Erforschung der Judenfrage" installieren, außerdem baute er zum Studium des slawischen Untermenschen eine "Ostbücherei Rosenberg" auf.

Für diese unterschiedlichen Einrichtungen ließ er in ganz Deutschland und im besetzten Gebiet jüdische, sozialistische, anarchistische und andere Bibliotheken, Archive usw. und Privatwohnungen plündern. Mit großem Erfolg. Der Leiter der Hauptarbeitsgruppe Niederlande, SS-Sturmbannführer Albert Schmidt-Stähler, schreibt am 26. Juli 1944 nach Berlin, an seinen Vorgesetzten, Dr. Werner Koeppen: "Auf das Ergebnis von über 29 000 geräumten Wohnungen können Sie und Ihre Mitarbeiter wirklich stolz sein." Millionen von Büchern und tonnenweise Kunstwerke wurden an die diversen Rosenberg-Archive geschickt, so viele, daß Rosenbergs Mitarbeiter mit dem Inventarisieren nicht mehr nachkamen. Bereits im Januar 1943 umfaßte allein die Frankfurter Bibliothek des Instituts zur Erforschung der Judenfrage 300 000 Bände, in der sog. Buchleitstelle in Berlin standen weitere 250 000 zum Transport nach Frankfurt am Main bereit. Rosenbergs Bibliothekare hatten aber bis dahin nur 27 848 Titel katalogisiert.

In den sog. Rosenberg Files, den wenigen Unterlagen aus dem Ministerium des Reichsleiters, die die Nazis vor Ende des Krieges nicht mehr vernichten konnten, findet sich eine auf den 17. Oktober 1944 datierte Einschätzung der Gesamtmenge des Diebesgutes: Demnach wurden 1 418 000 Eisenbahnwaggons mit Büchern und Kunstwerken bepackt, 427 000 Tonnen wurden per Schiff nach Deutschland geliefert. Manasse, der sich ausschließlich mit geraubten Büchern befaßt, teilt beiläufig mit, wieviel Beutekunst Rosenberg allein in Frankreich abräumte: "5 281 Gemälde, Pastelle, Aquarelle; 684 Miniaturen auf Emaille, Glas und Manuskripten; 583 Teppiche; 5 825 Kunstwerke wie Porzellan, Vasen und Bildnisse; 1 286 asiatische Kunstobjekte; 289 antike Kunstwerke usw." Es ist fast überflüssig zu erwähnen, daß beim Rauben Teile der Bibliotheken und Sammlungen absichtlich zerstört wurden, in die Papiermühlen kamen oder verfeuert wurden.

Wie aus den Untersuchungen Nicholas' und Hartungs ergibt sich auch aus der Manasses, wie unterschiedlich die Plünderungen im westlichen und östlichen Europa abliefen. Auf dem Gebiet der Sowjetunion handelten die Nazis völlig ungehemmt. Was ihnen ihre Gegner - denen es immer wieder glückte, Archive, die vielfach Personalia und kriegswichtige Daten enthielten, unbrauchbar zu machen - übriggelassen hatten, räumten sie ab oder vernichteten sie. Dagegen mußte man in Frankreich oder in den Niederlanden gelegentlich auf die Ansprüche der Vasallen und Statthalter achten.

Ebenso unterschiedlich verlief auch die Rückgabe. Während ein großer Teil des in Westeuropa Erbeuteten wieder zurückgegeben wurde, gab es für das Gebiet der Sowjetunion nur die Wiedergutmachung, die die vermeintlichen Sieger selbst ins Werk setzten. Noch immer ist es zu früh, den Umfang der Beute aus der Sowjetunion exakt zu bestimmen, aber soviel zeichnet sich bereits ab: Wenn es gerecht zuginge, müßten die Deutschen noch heute Reparationen zahlen. Wenn es gerecht zuginge - aber das ist natürlich nur ein Scherz.

Ulrike Hartung: Raubzüge in der Sowjetunion. Das Sonderkommando Künsberg 1941-1943. Edition Temmen, Bremen 1997, 135 S., DM 39,90

Peter M. Manasse: Verschleppte Archive und Bibliotheken. Die Tätigkeiten des Einsatzstabes Rosenberg während des Zweiten Weltkrieges. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, 158 S., DM 36