Vierundachtzig

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Das war an dem Tag, als in Hamburg Sommer war. So gegen vier Uhr nachmittags gehe ich mit einem Buch rüber ins Café auf dem Gelände des Altenheims. Da backen sie den Kuchen selbst, man kann draußen sitzen, und um diese Zeit ist es oft leer, weil es bald Abendbrot gibt.

Heute habe ich Pech. Ein rüstiges Seniorenpaar, wie ich schreiben würde, wenn ich fürs Hamburger Abendblatt schreiben würde, sitzt samt mittelalterlicher Tochter am Nebentisch. Vater, trotz seiner vierundachtzig und regelmäßiger Betablockerzufuhr, wie ich bald erfahre, hält sich aufrecht wie 'ne Eins und führt das Wort, während Mutter, quasi unsichtbar, sich in eine eigene Welt verkrümelt hat, was in den letzten sechzig Jahren vermutlich die beste Strategie gewesen ist. Jetzt geht die Tochter aufs Klo. Der General: "Mutter! Du warst doch gestern auf Gretels Geburtstag. Erzähl doch mal!"

Mutter: "Pieps."

Vater: "Gretel hat doch bestimmt wieder diesen Käsekuchen gebacken. Haben die anderen auch was mitgebracht? Die Kinder waren wohl auch da."

Mutter: "Pieps."

Vater: "Letztes Jahr war ich noch mit. Da hat Gerhard auf dem Harmonium gespielt. Das kann er ja."

Mutter: "Piepspieps."

Vater: "Das glaube ich nicht. Das macht er doch immer."

Die Tochter kommt zurück und wirft einen unauffälligen Blick auf ihre Armbanduhr. Vater: "Monika!" Die Tochter fährt zusammen. "Monika! Mutter hat gerade von Gretels Geburtstag erzählt. Mutter, erzähl doch mal! Gretel hat wieder die Käsetorte gebacken und Gerhard ..."

Da packe ich meine Sachen zusammen und gehe noch Hause, um vor der Haustür sozusagen vom Regen in die Traufe zu kommen. Eine Uralte steht davor, an ein Gehbänkchen geklammert. "Ich bin vierundachtzig!" bellt sie mich an. "Ich hab Gicht und Rheuma!" Ähm, ja, das tut mir echt leid und so, "...aber bei dem Wetter geht es Ihnen doch sicher besser...?" "Schlechter!" brüllt sie. "Wollen Sie...soll ich Sie...wo gehen Sie denn hin?" "Ich geh nirgendwo hin! Ich wohn im Pflegeheim! Da ist meine Todeskammer!" Dagegen kann man schlecht was sagen. Und was Gutes kann man auch nicht dagegen sagen. Ich ergreife die Flucht: "Ich muß jetzt rein, Essen kochen..." "Das ist ja auch wieder nichts", schreit sie, "kurz vorm Zubettgehen. Da ißt man nicht mehr!" Auch wieder wahr. Nur, daß mir noch keiner Valium reinstopft und mich um sechs Uhr ins Bett bringt. Lieber Gott oder wer auch immer das regelt: Laß mich nicht älter als dreiundachtzig werden!

Fanny Müllers Kolumnen sind soeben bei Edition Tiamat erschienen: "Das fehlte noch! Mit Röhm und Hitler auf La Palma". Preis: 28 Mark