Pfeifen im Politbüro

Eine Bilanz des Prozesses gegen Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber

Als große Abrechnung mit den Männern am "mächtigsten kollektiven Schreibtisch der DDR", die dort "Mord und Totschlag" beschlossen hätten, hatte 1995 die Staatsanwaltschaft den Prozeß angelegt. Ein großes Schauspiel erwartete sich der Fernsehsender n-tv von dem Verfahren gegen sechs ehemalige Mitglieder des SED-Politbüros und ging für die Übertragungsrechte bis vor das Bundesverfassungsgericht. Doch Karlsruhe lehnte eine entsprechende einstweilige Anordnung ab, das Fernsehen blieb draußen. Auch wollten die Angeklagten so gar nicht die großen Rollen annehmen, die ihnen die Staatsanwaltschaft zugedacht hatte. Sich klein machen, die eigene Entscheidungsbefugnis herunterzuspielen, das war, wenn auch in unterschiedlicher Form, ihre Strategie in den 20 Prozeßmonaten.

Günter Schabowski, ehemaliger Chef des Neuen Deutschland und heute Redakteur eines Anzeigenblatts, gab von vornherein den reuigen Sünder. Er bekannte seine "moralische Schuld". Die Toten an der Mauer seien "ein Teil der Erblast unseres mißratenen Versuchs, die Menschheit von ihren Plagen zu befreien", erklärte er. Sein Auftreten trug ihm sogar Lob bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein. Er sei der einzige aus dem Politbüro, der sich "schonungslos mit dem 'real existierenden Sozialismus' auseinandergesetzt hat". Bei aller verbalen Selbstgeißelung bemühte sich der als Maueröffner bekannt gewordene ehemalige Berliner SED-Bezirkschef, sich juristisch nicht zu sehr weh zu tun. Seinen Anwalt ließ er im Schlußplädoyer erklären, er sei kein "Dauerfeuergeneral" wie der Chef der DDR-Grenztruppen Klaus-Dieter Baumgarten gewesen. In Fragen der Grenzsicherung "war das Politbüro entmachtet", argumentierte der Verteidiger.

Schabowski selbst erklärte am Ende der Beweisaufnahme, er habe sich immer einreden können, daß der Grenzsoldat "vielleicht aus Notwehr gehandelt" habe oder daß die Tötung eines DDR-Flüchtlings "ein unglücklicher Zufall war", etwa durch "unpräzisen Umgang mit der Waffe". Außerdem habe er von den Toten an der DDR-Grenze "gewöhnlich aus Nachrichten des Deutschlandfunks oder aus den Tageszeitungen der Bundesrepublik erfahren". Sein Mitangeklagter, der Wirtschaftsexperte Günther Kleiber, bekräftigte, tödliche Grenzvorfälle seien dem Politbüro nicht mitgeteilt worden.

Bei soviel zur Schau gestellter Naivität seiner verbliebenen beiden Mitangeklagten - die drei anderen, Erich Mückenberger, Kurt Hager und Horst Dohlus waren wegen Krankheit aus dem Verfahren ausgeschieden - platzte Egon Krenz der Kragen: "Jeder Kommandeur, jeder Grenzsoldat und jeder Minister hat über die jeweiligen Vorfälle an der Mauer gewußt. Nur die Pfeifen im Politbüro sollen nichts mitgekriegt haben? Alle haben es gewußt!" rief er in einem heftigen Wortwechsel mit Schabowski in den Gerichtsaal.

Im Gegensatz zu Schabowski hat Krenz stets die Zuständigkeit des Gerichts bestritten, spricht von einem "politischen Prozeß" und von "Siegerjustiz". Die DDR sei keine "Bananenrepublik" gewesen, sondern ein souveräner Staat mit eigener Rechtsordnung. Organe dieses Staates könnten nicht im nachhinein der Rechtsordnung der Bundesrepublik unterworfen werden.

Mit dieser Argumentation erklärte der Honecker-Nachfolger das Gericht für nicht zuständig und beantwortet deshalb im Prozeß zunächst keine Fragen, sondern gab nur Erklärungen ab. Als er am 20. Juli schließlich erstmals auch Fragen des Gerichts beantwortete, betonte er, daß die DDR in Fragen der Grenzsicherung nicht souverän gewesen sei, hier habe die Sowjetunion alle Fäden in der Hand gehalten. So habe es schwerste politische Auseinandersetzungen mit Moskau gegeben, als Erich Honecker in den achtziger Jahren den Abbau der Mienen und Selbstschußapparate durchgesetzt habe. Die sowjetischen Generäle hätten nachgefragt, ob Honecker "überhaupt noch haltbar" sei, berichtete Krenz. Um die Allmacht der Sowjetarmee zu belegen, plauderte der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR aus dem Nähkästchen. Nach der Stationierung der Mittelstreckenraketen habe die Rote Armee mit der DDR-Spitze eine Informationsfahrt zu den "neuen Raketen" veranstaltet. Dazu seien die Fenster der Busse so verhängt worden, daß die DDR-Führung nicht wußte, wo sie hingefahren wurde. Also doch eine Bananenrepublik?

Nein, der Oberankläger, Staatsanwalt Bernhard Jahntz, wollte in diesem Fall nicht an der Souveränität der DDR rütteln lassen. Eindringlich beschrieb Jahntz, verdientes Mitglied im Stahl-Flügel der FDP, in seinem Schlußplädoyer die Machtfülle des Politbüros, seiner Meinung nach eine Versammlung von "Schreibtischmördern". Sie hätten das Grenzregime beschlossen, ganz im Sinne des "Staatszynismus der DDR", notfalls über die Leichen derer zu gehen, die sich durch das sozialistische System nicht hätten beglücken lassen wollen. Mit dem Grenzregime sei die "standrechtliche Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe wegen ungesetzlichen Grenzübertritts durch Grenzsoldaten" vollzogen worden.

Um die Politbüromitglieder wegen versuchtem und vollendetem Totschlag anklagen zu können, mußte die Staatsanwaltschaft neben martialischer Rhetorik freilich eine komplizierte juristische Konstruktion aufbieten. Die Anklage basiert auf DDR-Gesetzen, qualifiziert aber gleichzeitig das Grenzgesetz der DDR als "gesetzliches Unrecht". Die Plausibilität seiner Argumentation begründete Jahntz im Prozeß mehrfach mit dem Hinweis auf den Nationalsozialismus. So sagte er bei der Vernehmung von Krenz, schließlich hätte "auch die Justiz der DDR keine Anstände, das Verhalten von Politikern und anderen Entscheidungsträgern eines undemokratischen Systems, hier: des Nationalsozialismus, zu würdigen". Jahntz selber sah sich allerdings vor "erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten", als er ab 1979 tatsächlich gegen NS-Würdenträger zu ermitteln hatte. Von 60 Verfahren gegen ehemalige Ankläger und Richter des NS-Volksgerichtshofes, an denen er beteiligt war, wurden 59 eingestellt.

Bei seinem Plädoyer gegen die Politbüromitglieder mußte sich Jahntz nicht vor juristischen Schwierigkeiten fürchten, konnte er sich doch auf eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1996 stützen. Demnach hätten auch die DDR-Bürger, vom Grenzsoldaten bis zum Staatsratsvorsitzenden wissen müssen, daß der Schußwaffengebrauch an der DDR-Grenze gegen allgemeine Menschenrechte verstößt. Insofern sei das Rückwirkungsverbot, nach dem nur nach einem zur Tatzeit bestehenden Gesetz verurteilt werden kann, in diesem Fall eingeschränkt. Daß bundesdeutsche Gesetze den Schußwaffengebrauch fast wortgleich regeln, ließ das Gericht nicht als Argument gelten.

So konnte die Staatsanwaltschaft siegesgewiß elf Jahre Haft für Egon Krenz für Totschlag in sechs Fällen und versuchten Totschlag in zwei Fällen fordern. Günter Schabowski wollte sie neun Jahre hinter Gitter sehen, Günther Kleiber siebeneinhalb.

Der Vorsitzende Richter Josef Hoch wird höchstens geringfügig unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft bleiben, wenn er am 25. August das Urteil spricht. Mit den durch das Bundesverfassungsgericht bestätigten Urteilen gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates von bis zu siebeneinhalb Jahren ist ein Maß vorgegeben, unter das Hoch nicht zurückgehen wird, hatte er doch schon bei Prozeßbeginn deutlich gemacht, daß auch er im Politbüro das eigentliche Machtzentrum der DDR sieht.