Lehrstück in Den Haag

Das UN-Kriegsverbrechertribunal kann nur verurteilen, weil es die deutsche Rechtsinterpretation vom "Völkergefängnis Jugoslawien" übernommen hat

Anfang Juli beendete das für die Verfolgung von Kriegsverbrechern im früheren Jugoslawien zuständige Tribunal in Den Haag sein erstes Verfahren. Es verurteilte den Serben Dusan Tadic« zu 20 Jahren Haft. Der Einfachheit halber soll an dieser Stelle nicht die individuelle Schuld Tadic«s bestritten werden, obwohl es dazu, angesichts der gerichtsbekannten Tatsache, daß ein Belastungszeuge von den muslimischen Behörden gekauft war und deshalb zurückgezogen werden mußte, durchaus Anlaß gäbe. Vielmehr geht es um ein Problem des Völkerrechts: Warum wurde gegen Tadic« nicht in Belgrad, sondern in Den Haag verhandelt? Und warum wurde er nicht des individuellen Massenmordes angeklagt, sondern der "Verbrechen gegen die Menschheit"? Vergehen dieser Dimension wurden überhaupt erst ein einziges Mal, vor dem Nürnberger Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs, verhandelt.

Das im Frühjahr 1993 von den Vereinten Nationen installierte Tribunal ist ausschließlich für diese Art von Verbrechen zuständig. Wegen dieser Einschränkung mußte Tadic« auch in einer Reihe von gewöhnlichen Mordanklagen freigesprochen werden, bei denen den Richtern eine entsprechende Einstufung als Kriegsverbrechen mißlang. Die juristische Grundlage, auf der das Tribunal verurteilen kann, erfordert, daß ein Kriegsverbrechen im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts stattgefunden hat, sich in umfangreicher oder systematischer Weise gegen eine rassisch, religiös oder ähnlich diskriminierte Zivilbevölkerung gerichtet haben muß und in die Maßnahmen eines kollektiven Zusammenhangs einer Tätergruppe, einer Organisation oder eines Staates eingeordnet war.

Tadic«s Verbrechen, so die UN-Richter, seien im Zusammenhang der Politik der Serbischen Demokratischen Partei (SDS) verübt worden, die in den von Serben besiedelten Gebieten Bosniens die Macht ergriffen, widerrrechtlich die Serbische Republik Bosniens (SRB) proklamiert und ein "Großserbien" angestrebt habe. Tadic« sei dabei an der systematischen Einschüchterung, Verfolgung, Vertreibung, Terrorisierung und Ermordung von Muslimen beteiligt gewesen. Die Voraussetzungen für die Einstufung als Kriegsverbrechen seien somit gegeben.

Erhebliche Schwierigkeiten bereitete dem Gericht die komplizierte staatsrechtliche Konstellation, in der sich Bosnien zur Zeit des Kriegsausbruchs befand, und die damit verbundene Einordnung der Kriegsgegner. Tadic« taucht als Täter erstmals im Zusammenhang mit der Einnahme der im Nordwesten Bosniens gelegenen Stadt Prijedor auf, die am 30. April 1992 durch paramilitärische Kräfte der SDS und Einheiten der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) erfolgte. Die eigentliche Übernahme der Stadt verlief unblutig. Später wurde der größte Teil der muslimischen Bevölkerung, die zu dem Zeitpunkt noch etwa die Hälfte der Einwohnerschaft ausmachte, vertrieben oder in Gefangenenlager verschleppt. Eine Reihe der Auseinandersetzungen im Mai, insbesondere viele der Tadic« zur Last gelegten Verbrechen, folgten mehr oder weniger direkt aus diesen und ähnlichen Ereignissen. Die Bewertung der Vorgänge in Prijedor spielt deshalb in dem Urteil des Tribunals eine zentrale Rolle.

Dabei geht es allerdings weniger um den detaillierten Ablauf der Tadic« im einzelnen zugeschriebenen Verbrechen, sondern vor allem um politische und völkerrechtliche Aspekte, aus denen sich die rechtliche Kategorisierung des Ereignisses als Kriegsverbrechen und in Folge überhaupt erst die Zuständigkeit des Tribunals ableitet. Die staatliche Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas war erst wenige Wochen vor der Einnahme Prijedors, am 7. April 1992, von der Europäischen Union (damals noch: EG) und den USA anerkannt worden. Der Status der in Bosnien stationierten JVA-Verbände war zunächst unklar, denn bis dato waren ihre Stützpunkte innerhalb Bosniens absolut legal. Die JVA war verfassungsrechtlich gleichermaßen dem Schutz der Bürger der Republik Bosnien-Herzegowina wie der Integrität der Jugoslawischen Föderation verpflichtet - ein sich freilich zunehmend widersprechender, aber zu diesem Zeitpunkt noch ganz und gar unentschiedener Auftrag. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete erst am 15. Mai eine Resolution, mit der die Einstellung "jeglicher Einflußnahme von außerhalb Bosnien-Herzegowinas" angemahnt und gefordert wurde, die Einheiten der JVA sollten, "entweder abgezogen, der Autorität der Regierung Bosnien-Herzegowinas unterstellt oder aufgelöst und entwaffnet werden". Der Abzug begann darauf am 19. Mai, wobei nur ein Teil der Einheiten wirklich abrückte; der verbliebene Teil, Soldaten sowohl wie Waffen, lief teils zur Armee der SRP, teils zur bosnischen Armee über oder desertierte. Bis zum 15. Mai war somit der Verbleib der JVA in Bosnien vom Standpunkt des internationalen Rechts nicht zu beanstanden.

Erst am 22. Mai bestand eine aus Sicht der Vereinten Nationen klare völkerrechtliche Situation, als auch der UN-Sicherheitsrat und die UN-Vollversammlung Bosnien-Herzegowina als eigenständigen Staat anerkannten. Aber wie ist die Situation vor dem 22. Mai juristisch zu bewerten? Die Antwort des Tribunals: "Auch vor diesem Datum bildete die Republik Bosnien-Herzegowina eine organisierte politische Einheit, als eine der Republiken der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) verfügte sie über ihr eigenes Sekretariat für Verteidigung und ihre eigene Territorialverteidigung (TO)." Auch vom 7. April, dem Tag der Anerkennung durch EG und USA, bis zum 19. Mai, dem formellen Abzug der JVA-Einheiten, so die Schlußfolgerung, habe der Krieg also eindeutig den Charakter eines internationalen bewaffneten Konfliktes gehabt.

Der die SRB vor dem UN-Tribunal vertretende Rechtsanwalt Igor Pantelic« hatte diese Auffassung in einem Interview als "Konstruktion" kritisiert. Die UN-Richter seien damit der Frage ausgewichen, ob Bosnien-Herzegowina Anfang April überhaupt als internationales Rechtssubjekt habe anerkannt werden dürfen. Das internationale Recht erwarte, argumentiert Pantelic«, daß ein Staat über ein Territorium und ein Volk, sowie über die nötige Souveränität und entsprechende Gewaltmittel verfüge, um dieses Territorium zu kontrollieren und seine Bevölkerung zu schützen. Am Tag seiner Anerkennung habe sich Bosnien keineswegs in einer solchen Situation befunden. Die These des Tribunals, daß die in Bosnien stationierten JVA-Verbände bis zu ihrem Abzug als "Agenturen der Bundesrepublik Jugoslawien" auf feindlichem Territorium tätig gewesen wären, veranschauliche nur die Unsicherheit über die verfassungsrechtlichen Verhältnisse und die richterliche Unkenntnis der Spannungen, die im damaligen Bosnien zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen geherrscht hätten.

Die in der muslimischen Tageszeitung Oslobodjenje im April und Mai 1997 dokumentierte Entstehungsgeschichte der muslimischen Armee, die der von Izÿetbegovic«s Streitkräften autorisierte Militärjournalist Sefko Hodzÿic« zusammengestellt hat, widerspricht ebenfalls der Darstellung der UN-Richter, daß die JVA vom Tag der Unabhängigkeit eine feindliche Macht in Bosnien gewesen sei. Demnach hatte sich der damalige Kommandeur der bosnischen Territorialverteidigung (TO) noch am 11. April 1992 öffentlich dahingehend geäußert, es sei möglich, "daß die JVA und die TO ein gemeinsames Kommando bilden". Erst am 16. April, nachdem Verhandlungen in Sarajevo zu keinem Ergebnis geführt hatten, forderte der damalige bosnische Verteidigungsminister die JVA-Führung dazu auf, sich bis zum 20. April der TO anzuschließen. Bei Nicht-Befolgung würden ab diesem Datum alle JVA-Soldaten "wie die Angehörigen einer Streitmacht behandelt, die die Legitimität in Bosnien-Herzegowina verloren hat". Unmittelbar nach dieser Erklärung seien zahlreiche Offiziere der JVA zur TO übergelaufen. Zweifellos beweist diese Kriegserklärung der TO an die JVA, daß es damals noch keine bosnische Exekutivgewalt über bosnisches Territorium gab.

Das UN-Tribunal hätte demnach bei Bedarf auch gute Argumente gefunden, sich die Situation in Bosnien im April und Mai 1992 als Realisierung einer von langer Hand geplanten bewaffneten muslimischen Aggression gegen die Integrität der Jugoslawischen Föderation zu interpretieren und die internationale Anerkennung Bosnien-Herzegowinas nicht nur als politischen Fehler, sondern auch aus Sicht internationalen Rechts als fragwürdig einzustufen. Damit wäre der Krieg nicht mehr als internationaler Konflikt interpretierbar gewesen, sondern hätte sich als innerjugoslawischer Zwist offenbart. Geändert hätte diese späte Einsicht hinsichtlich der begangenen Verbrechen und zu beklagenden Opfern vermutlich nichts, allerdings würden statt den Richtern in Den Haag und München solche in Sarajevo oder Belgrad heute Recht über die damaligen Geschehnisse sprechen. So wurde in Den Haag das bosnische Volk - vielmehr: sein muslimischer Teil - als völkerrechtliches Subjekt über den gesamtjugoslawischen Staat gesetzt. Mit dieser Konstruktion aber könnten morgen auch andere imaginierte Ethnien wie Padanier, Korsen oder Schotten einen Sezessionskrieg beginnen - und die Be- und Verurteilung der dabei begangenen Verbrechen läge nicht mehr bei der Gerichtsbarkeit des jeweiligen Zentralstaates, sondern in Den Haag, Washington oder Bonn. Die Aufteilung bestehender Staaten im Interesse der Großmächte hat damit ihren völkerrechtlichen Segen bekommen.