Nie wieder erste Liga

Der Deutschland AG droht der Abstieg aus der höchsten Division der Weltwirtschaft, warnen die Standort-Trainer.

Der Sport, die schönste Nebensache der Welt, liefert auch die Bilder für die ernsten Seiten des Lebens. So werden wir täglich über den Tabellenstand der ökonomischen Weltliga unterrichtet, wo offenkundig der Abschluß der Saison ansteht. Es geht darum, welche Nation im Standortwettbewerb weltweit die Nase vorne hat und welche Konkurrenten in die Regionalligen zurückgestuft werden. Hans Peter Stihl, ein prominenter Coach der deutschen Wirtschaftsverbände, fürchtet angesichts des Scheiterns der "großen Steuerreform" das Schlimmste: "Lafontaine stürzt Deutschland in die Kreisklasse."

Die Kondition der europäischen Länder hält die Zuschauer, Fans und Zocker in Atem. Die jahrzehntelang von Sieg zu Sieg eilende Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland wird ebenso wie die Nachbarschaftsclubs Frankreich und Italien als Abstiegskandidat gehandelt. Stimmt die Analogie zwischen einem Unternehmen und einem nationalen Wirtschaftsstandort aber überhaupt, oder lenken uns die populären Sportbilder auf falsches Terrain?

Es ist bekannt, daß große Automobilunternehmen wie Volkswagen oder Daimler-Benz einen Teil ihrer Produktion an ihre eigene Belegschaft verkauft, aber im Verhältnis zum Gesamtumsatz ist die Größenordnung der sogenannten Jahreswagen gering. Auch die Belegschaften der anderen Pkw-Produzenten sind als Absatzmarkt eher bescheiden. Bei den Nationen ist das anders: Zwar haben die Exporte deutlich zugenommen, aber die Deutschland AG wie die anderen Teilnehmer in der ökonomischen Weltliga produzieren immer noch überwiegend Güter und Dienstleistungen für den eigenen Bedarf - wenn man so will: für die eigenen Belegschaften. Der Unternehmensvorsitzende Helmut Kohl stöhnt seit Monaten über diesen entscheidenden Unterschied zwischen Unternehmen und Nationen: der Exportmotor läuft auf Hochtouren, begünstigt durch eine schleichende Abwertung der Mark, aber die Binnenwirtschaft will nicht in Schwung kommen. Schlußfolgerung: Ohne den Binnenmarkt läuft überhaupt nichts.

Selbstverständlich achten gegenwärtig alle Regierungen darauf, ob die Wirtschaftsstandorte im Hinblick auf die Qualifikation der Arbeitskräfte, Löhne und Gehälter, Infrastruktur, Steuern und Subventionen für das Kapital attraktiv sind. Aber die Nationen operieren in der internationalen Arbeitsteilung nicht nur als Konkurrenten, sondern auch als Kooperationspartner. Es ist allemal preiswerter, Standortvorteile durch Import bestimmter Produkte und Dienstleistungen zu nutzen, statt mit höherem Wertschöpfungseinsatz alles im nationalen Rahmen erzeugen zu wollen. Unter diesem Blickwinkel stellt die Tendenz zur Globalisierung, also der Vertiefung und Erweiterung der internationalen Arbeitsteilung, eine zivilisatorische Chance dar. Grundsätzlich könnten die unterschiedlichen Standortbedingungen auf unserem Globus durch einen wechselseitigen, fairen Austausch eine umfassende Wohlfahrtsentwicklung für alle garantieren. Im real existierenden Kapitalismus wird diese kooperative Idee durch einen harten Wettbewerb ad absurdum geführt. Die reichen Industrieländer nutzen die internationale Arbeitsteilung, um sich entweder im Konkurrenzkampf unberechtigte Vorteile zu verschaffen oder einen Teil der eigenen Probleme - beispielsweise die Massenarbeitslosigkeit - bei den Nachbarn abzuladen. Das ist nicht neu.

Schon zu Beginn des Zeitalters der großen Industrie, dem ersten großen Lebensabschnitt der bürgerlichen Gesellschaft, tritt die Gewalt als Geburtshelfer eines modernen Gesellschaftsvertrages in Erscheinung. "Kolonialsystem, Staatsschulden, Steuerwucht, Protektion, Handelskriege usw., diese Sprößlinge der eigentlichen Manufakturperiode, schwellen riesenhaft während der Kinderperiode der großen Industrie", schreibt Marx im "Kapital". Am Anfang des 20. Jahrhunderts, im Übergang zu einem neuen Entwicklungsabschnitt der kapitalistischen Produktionsweise, sind wir erneut mit einer verschärften Konkurrenz konfrontiert. Die Außenpolitik der Metropolen hat unverkennbar eine Tendenz, Konflikte um politische Einflußzonen oder wirtschaftliche Interessen auch mit militärischen Mitteln auszutragen. Für Luxemburg, Lenin und die sozialistische Linke existiert zudem ein Zusammenhang zwischen den verschärften Verteilungskonflikten in den nationalen Ökonomien und den imperialistischen Expansionstendenzen. Der aggressiven Außenpolitik entspricht eine fortschreitende Umverteilung zu Lasten der Arbeiterklasse und der nichtkapitalistischen Schichten. Zum einen werden den kapitalistischen Unternehmen für ihr Preisdumping auf den Auslandsmärkten Kompensationen und Steuererleichterungen auf dem Binnenmarkt zugeschanzt. Zum anderen müssen die finanziellen Lasten für eine immer aufwendigere Rüstungs- und Militärpolitik aufgebracht werden.

Der sich dagegen formierende Widerstand konnte allerdings weder den mörderischen Weltkrieg noch die tiefgreifende Spaltung und moralische Diskreditierung der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung verhindern. Schlimmer noch: In der nachfolgenden Weltordnung wurden keine durchgreifenden Strukturveränderungen erreicht, so daß sich die Grundkonstellation von verschärften Wirtschaftskonflikten schnell wieder ausbildete.

Allerdings wurde bereits vor der großen Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre dieser These von den Heilungskräften des Laisser-faire Kapitalismus entschieden widersprochen. Der rigorose Kampf um die Marktanteile sei eben keine vernünftige Strategie, behauptete selbst ein Teil der etablierten Ökonomen, für die dann Keynes die epochemachende Programmformulierung fand: "Wenn aber die Nationen lernen können, sich durch ihre Inlandspolitik Vollbeschäftigung zu verschaffen ..., braucht es keine wichtigen wirtschaftlichen Kräfte zu geben, die bestimmt sind, das Interesse eines Landes demjenigen seiner Nachbarn entgegenzusetzen ..."

Offenkundig sind die entwickelten kapitalistischen Nationen aus dem großen Schaden der dreißiger Jahre nicht klug geworden. Erneut hat ein Rennen in den Abgrund begonnen. So versuchen überall Regierungen ihren exportierenden Unternehmen durch Abwertung der Währung, Senkung von Steuertarifen, Kürzung von Arbeitseinkommen und eine massiver Sparpolitik bei öffentlichen Ausgaben sowie die Kappung von ökologischen Standards Wettbewerbsvorteile zuzuschanzen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die reifen kapitalistischen Länder mit deutlich weniger Arbeitskräften eine qualitativ hochwertige Masse an Waren und Dienstleistungen erzeugen können. Die Entwicklung der Produktivkräfte ist dieser Tage erneut im Bereich der Telekommunikation deutlich geworden. Ein Drei-Minuten-Gespräch zwischen New York und London, das 1930 (gemessen am Preisindex von 1990) 250 US-Dollar und 1950 noch 50 Dollar kostete, war 1990 für 3,32 Dollar möglich und ist heute für zwei zu haben.

Die zentrale Frage lautet: Können die Gesellschaften eine Kontrolle und Steuerung über die Ökonomie behaupten oder bleiben sie auf ewig in der untergeordneten Rolle des Sich-Anpassenden? Seit den Zeiten der großen Nationalökonomen Adam Smith und David Ricardo wird darüber gestritten, ob es naturgemäße Verteilungsverhältnisse für den gesellschaftlichen Reichtum gibt, oder ob sie wie die Produktionsverhältnisse einen historisch bestimmten und daher veränderbaren Charakter haben. Immer wieder ist versucht worden, die Verteilungsverhältnisse als unveränderbar darzustellen. Bei dem gegenwärtigen Rennen am Abgrund werden in dieser schlechten Traditionslinie sämtliche zivilisatorische Errungenschaften in Frage gestellt: kollektives Arbeits- und Tarifrecht, soziale Sicherheit gegen die Risiken der kapitalistischen Lohnerwerbsgesellschaft, die Verpflichtung der Gesellschaft, ein Mindestmaß an Chancengleichheit und Sozialisierung der Anpassungslasten durchzusetzen.

Immer deutlicher tritt als Ziel der heutigen Fitness-Kur die weitreichende Entsolidarisierung der Gesellschaft hervor. Um den drohenden wirtschaftlichen Abstieg aus der Weltliga zu verhindern, sollen große Teile nicht nur auf soziale Fortschritte in ihren Lebensverhältnissen verzichten, sie sollen zudem auch die Zweitrangigkeit ihrer Rechtsansprüche gegenüber den Eigentümern und Investoren akzeptieren. Die Trainingsprogramme für das Überleben in der ökonomischen Weltliga sind also in doppelter Weise untauglich: Sie gefährden durch die Abwärtsspirale ein kooperatives Zusammenleben der Nationen, schließen große Teile der heimischen Bevölkerung vom gesellschaftlichen Reichtum aus und stellen damit demokratisch-zivilisatorische Grundstrukturen in Frage. Der Versuch, rigoros eine egalitäre Gesellschaft erzwingen zu wollen, ist gescheitert. Aber die Aussichten der entsolidarisierten kapitalistischen Gesellschaften sind nicht minder zukunfts- und perspektivlos.