Waigel ist nicht mehr Monsieur Drei Prozent

Die derzeit zur Schau gestellte deutsch-französische Harmonie kann die grundsätzliche Schwäche des Euro nicht verhindern

Gestärkt vom beeindruckenden Konjunkturaufschwung in Frankreich - die Arbeitslosigkeit soll im August auf sage und schreibe 12,5 Prozent gesunken(!) sein - machte sich Lionel Jospin, Chef der neuen sozialistischen Regierungsmannschaft in Paris, vergangene Woche auf die Reise ins Nachbarland, um mit einem geschwächten Bundeskanzler über den Euro zu debattieren. "Frankreich wird die geforderten Stabilitätskriterien - auch die ominöse Drei-Prozent-Grenze für die Neuverschuldung - respektieren", hatte sein Wirtschafts- und Finanzminister, Dominique Strauss-Kahn, zuvor nach Bonn gemeldet und orakelt, daß sein Haushaltsdefizit bis Ende des Jahres "vielleicht schon auf 2,9 Prozent" gesunken sein könnte. Die aktuelle Defizit-Prognose für Deutschland seitens der OECD liegt bei 3,2 Prozent, die offizielle deutsche Interpretation des Maastricht-Vertrags lautet bekanntlich: Drei Punkt Null. Nun, so der konservative Le Figaro nicht ohne Stolz, gehöre dem sozialistischen Strauss-Kahn - und nicht Theo Waigel - der begehrte Titel des Monsieur Drei Prozent.

Einen Tag vor Jospins BRD-Visite nutzte auch EU-Währungskommissar Yves-Thibault de Silguy die Gelegenheit, den auch als "Euro-Kohl" bekannten Chef der Bonner Regierung zu ärgern. Auf die deutschen Probleme mit dem Haushaltsdefizit angesprochen, meinte er am 27. August: Niemand "befindet sich derzeit in einer Position, um zu entscheiden, wer an der Währungsunion teilnimmt und wer nicht. In Deutschland befinden wir uns in dem Rahmen, der es möglich macht, die Kriterien zu erfüllen." Der luxemburgische EU-Ratspräsident Jean Claude Juncker dazu: "Im Vertrag stehen drei Prozent, aber der Vertragsrahmen bietet genug Interpretationsspielraum." Auf der Grundlage ihrer neuesten Daten gehe die EU-Kommission davon aus, daß "eine bedeutende Zahl der EU-Staaten, wahrscheinlich eine Mehrheit" am 1. Januar 1999 an der Währungsunion teilnehmen wird.

Damit dürfte das Vorhaben, die Maastricht-Kriterien als scheinbar objektiven Maßstab zur Kandidatenauswahl für die künftige Euro-Zone zu mißbrauchen, gescheitert sein. Vorstellungen wie die der Commerzbank, nach denen nur sechs (Deutschland, Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreich) bis acht (zusätzlich Irland und Finnland) Staaten eine "kleine Währungsunion" bilden, während andere die Teilnahme an der Währungsunion entweder "verweigern" (Dänemark, Großbritannien) oder deren Teilnahme wegen "negativen Folgen an den Finanzmärkten" verweigert wird, sind ohne offen diskriminierende Attacken längst nicht mehr zu begründen.

Die in der bürgerlichen Presse kolportierte Wiederannäherung zwischen der französischen und deutschen Regierung - Bonn unterschreibt den Beschäftigungs-, Paris den Stabilitätspakt - stellt sich vor diesem Hintergrund als flache Oberflächenanalyse heraus. Wahrscheinlicher ist, daß weder aus dem einen noch aus dem anderen etwas wird. Die aktuelle Abwertung der Mark und der sich im August verstärkende Preisanstieg kündigen den schwachen Euro bereits an. Der jetzt bekannt gewordene, bereits im Juli erfolgte Verkauf von 3,5 Milliarden Dollar durch die Deutsche Bundesbank hat die Finanzmärkte dagegen kaum beeindruckt. Deshalb will Bundesbankchef Hans Tietmeyer nach wochenlangen Dementis Zinserhöhungen jetzt doch nicht mehr ausschließen: "Ich kann jetzt nicht sagen, daß nichts passieren wird", verkündete er pünktlich zum Jospin-Besuch, worauf am folgenden Tag prompt die deutschen Aktienkurse unter Druck gerieten.

Jospin und seine Wähler werden demnach bald erkennen, daß sich die im Streit zwischen Frankreich und Deutschland äußernden Widersprüche weder auf bilateralen noch europäischen Gipfeltreffen beseitigen lassen. Die gegensätzlichen Bedürfnisse von Kapital und Arbeit, zu deren Hüter sich die "sozialistische" Regierung in Paris auf der einen, die "bürgerliche" in Bonn auf der anderen Seite stilisieren, ließen sich angesichts der aktuellen Krise nur durch zweistellige Wachstumsraten - nicht nur beim Export - überdecken. Weil es diese nicht geben wird, wird auch keine Seite gewinnen.

Die jüngsten Prognosen des Münchner Ifo-Institut, des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und der DB Research, der Analyse-Abteilung der Deutschen Bank, die alle von einem kräftigen - durch einen Exportboom von bis zu 20 Prozent getragenen - Konjunkturaufschwung der deutschen Wirtschaft im kommenden Jahr von um die drei Prozent ausgehen, stimmen vor allem darin überein, daß die Arbeitslosigkeit trotz allem Wachstum das "Sorgenkind" bleiben werde. Weil das Grundproblem in allen EU-Staaten das gleiche ist - nicht ein Mangel an Waren oder Kapital, sondern zu viel von alledem, aber zu wenig Markt, um den ganzen Plunder zu verkaufen - wird auch der Wirtschaftsraum der künftigen Euro-Zone von diesem Problem geprägt sein: Wenig Wachstum, wenig Arbeit.

Die Euro-Strategen wollen die Enge des bestehenden Marktes durch Konkurrenzgewinne auf dem Weltmarkt durchbrechen: "Mit Deutschland, seinem fundamentalen Partner, will Frankreich den Euro gemäß den Bedingungen des Maastricht-Vertrages einführen", und damit einen "echten ökonomischen Pol" entstehen lassen, bekannte Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac zur selben Zeit, als Jospin in Bonn mit Kohl über einen EU-Beschäftigungsgipfel im November in Luxemburg verhandelte und Oskar Lafontaine auf der Bonner Europa-Konferenz der Sozialdemokraten den Euro als Beitrag zur "beschäftigungspolitischen Stabilisierung" durch eine europaweite Koordination von Geldpolitik, Tarifpolitik und Steuerpolitik ausmalte.

Wenn der Euro mit dem Doller konkurrieren, also Kapital- und Warenströme anziehen soll, muß sein Geldwert stabil sein. Eine Währung wird von den Finanzspekulanten dann als stabil eingeschätzt, wenn ihnen der sie konstituierende Wirtschaftsraum ökonomisch und politisch stabil erscheint. Ein Wirtschaftsraum, der sich durch steigende Massenarbeitslosigkeit und chronische Wachstumsschwäche auszeichnet, hinterläßt aber nur bedingt einen stabilen Eindruck. Deshalb favorisieren die Finanzmärkte derzeit den Dollar. Die weiche Mark und der weiche Euro sind somit das Produkt der Erwartungen in die Wirtschaftskraft der künftigen Euro-Zone.

Als Vorbild der künftigen Europäischen Zentralbank dürfte die Deutsche Bundesbank demnächst die Zinsen hoch- und somit die herbeigeredeten Konjunkturaussichten herunterschrauben. Reagiert sie nicht, wird sie sich mit Inflation konfrontiert sehen und irgendwann später um so härter zuschlagen. Tietmeyer sitzt dennoch in der Patsche: In beiden Fällen würden nämlich die Finanzmärkte auf diese weiteren Anzeichen der wirtschaftlichen Schwäche entsprechend reagieren. Würden sich statt Tietmeyer und Waigel Jospin und Lafontaine durchsetzen, würde das Ergebnis nicht anders ausfallen. Es würde sich bald zeigen, daß weder Beschäftigungsprogramme noch billiges Geld zur Steigerung der Investitionstätigkeit führen kann, wenn die Märkte längst überfüllt sind. Eventuelle Nachfragesteigerungen bedienen die Unternehmen einfach durch bessere Auslastung ihrer Kapazitäten, ohne Arbeitsplätze in nennenswerter Anzahl - siehe Autoindustrie - zu schaffen. Der Euro ist insofern das Kind eines Systems der wirtschaftlichen Produktion, das seine Kraft gerade in dem Moment eingebüßt hat, als es ohne Alternative schien.