In eins nun die Hände

II. An Band und Bildschirm sieht der Flächentarifvertrag anders aus

Wir dokumentieren das Resümee einer Untersuchung der IG Metall, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden sollte

Die Tarifabteilung der IG Metall wollte von Betriebsräten und Vertrauensleuten wissen, was sie von einer Reform des Flächentarifvertrags erwarten. Eine Projektgruppe aus drei Sozialwissenschaftlern wurde beauftragt, in der zentralen Bildungsstätte Sprockhövel Seminarteilnehmer anhand eines Leitfadens zu interviewen. In die Befragung eingebunden waren Betriebsräte und Vertrauensleute aus 28 Betrieben der Metall- und Elektroindustrie. Der seit Juli 1997 vorliegende Abschlußbericht schlummert in den Schubladen der IG Metall-Vorstandsverwaltung in Frankfurt/Main.

Unter dem Druck von Arbeitslosigkeit, Arbeitgeberverbänden und neoliberaler Regierungspolitik ist die Politik der IG Metall soweit in die Defensive geraten, daß manifeste Krisentendenzen sichtbar werden. Die wichtigsten seien abschließend in Thesenform skizziert:

1. Sichtbarstes Krisensymptom ist die Erosion der Tarifverträge und der Tarifnormen. Sie zeigt sich nicht nur in "Tarifbrüchen", in der Unterschreitung von gültigen Tarifnormen, sondern auch in der schleichenden Suspendierung von Prinzipien, die den Tarifnormen immanent sind. Mit der tolerierten Konzessionspolitik in den Betrieben erodierte auch der soziale Gehalt der Tarifverträge:

* Die Arbeitszeitflexibilisierung wurde, weil vornehmlich an
betrieblichen Verwertungsinteressen ausgerichtet, zum Instrument der Entgrenzung der Arbeitszeit, die den Anspruch der Arbeitnehmer auf eine verläßliche Disposition über ihre private Zeit einschränkt.

* In der sich durchsetzenden neuen Leistungspolitik werden berechenbare Anforderungen durch flexible Standards ersetzt, deren Kriterien situationsabhängig und variierend an wechselnden Konkurrenzverhältnissen - Arbeitsgruppen, Fertigungsbereichen, Werken oder Konzernen - ausgerichtet werden.

* Der Umbau der Unternehmen in teilselbständige, nach realen oder fiktiven Marktbedingungen operierende Einheiten, inszeniert nicht nur Konkurrenzen in und zwischen den Belegschaften, sondern mehr: Die sich etablierenden neuen Unternehmensstrukturen lösen tendenziell die überkommene betriebliche Sozialverfassung auf. Der inhärente Bezugspunkt der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, auf den hin die konsistenten Regelungen der Arbeitsverhältnisse entworfen wurden, droht damit verloren zu gehen.

* Durch die latente Fragmentierung der Belegschaften aufgrund von Unterschieden der Arbeits- und Leistungsbedingungen sowie neuerdings der flexiblen Arbeitszeiten verschiedenen Zuschnitts wird es einfacher, die Belegschaften zu spalten. Vertieft werden die Spaltungen durch (vom Normalarbeitsverhältnis) abweichende arbeitsvertragliche Regelungen in verschiedene Arbeitnehmergruppen wie Teilzeitbeschäftigte, befristet Eingestellte, Beschäftigte mit regulären oder Einstiegslöhnen. Eine hierarchisierte Struktur von materiell und rechtlich divergierenden Arbeitsverhältnissen zeichnet sich ab. Die Vorstellung von Belegschaft als einem sozialen Kollektiv verliert an Realitätsgehalt.

2. Die Suspendierung immanenter tarifvertraglicher Prinzipien nahm die IG Metall bislang ohne Gegenwehr hin. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen die handfesten Tarifbrüche, denen die IG Metall-Führung mit einer "Modernisierung der Tarifverträge" zu begegnen sucht. Die unter diesem Titel diskutierten Vorschläge sind allesamt regelungstechnischer Art. Mit Öffnungsklauseln, Branchenfenstern und Härtefallregelungen sollen der Unterschreitung von Tarifvertragsbestimmungen merkliche Grenzen gesetzt werden. Die institutionellen Verfahren für die Abweichung von Tarifnormen, insbesondere die Beteiligung der Tarifvertragsparteien und die Rolle der Betriebsräte, sind bislang nicht präzisiert, weil zwischen IG Metall und Arbeitgeberverbänden umstritten. In ihrer Substanz laufen sie auf die rechtliche Festschreibung des gegenwärtigen Zustandes hinaus. Bestenfalls jedoch können sie - unter günstigen Umständen und nur auf Zeit - weitere Tarifbrüche verhindern. Mit regelungstechnischen Änderungen allein läßt sich indes der objektiven Problemlage, der sich die IG Metall - wie alle Gewerkschaften - gegenübersieht, nicht beikommen.

Die befragten Betriebsräte und Vertrauensleute haben nahezu geschlossen die Vorschläge zur Reform des Flächentarifvertrags abgelehnt. Und das aus guten Gründen: Sie befürchten, den Pressionen des Managements nicht weniger ausgeliefert zu sein als gegenwärtig, eher noch mehr. An ihrer ohnmächtigen Situation würden Vereinbarungen zu geregelten Abweichungen von den Tarifnormen nicht einen Deut ändern.

3. Ein untrügliches Krisensymptom sind die Begriffe und ihre Semantik, mit denen die öffentliche, aber auch die organisationsinterne Diskussion über den Flächentarifvertrag von Gewerkschaftern geführt wird. Die IG Metall reagiert nur defensiv, läßt sich von den Arbeitgeberverbänden die Problemdefinitionen vorgeben. Daher bleibt ihre Argumentation in allen wesentlichen Momenten der neoliberalen Hegemonie verhaftet.

"Reform des Flächentarifvertrages", "Modernisierung der Tarifpolitik", "Öffnung der Tarifverträge", "Branchenfenster", "tarifliche Rahmenvereinbarungen" u.ä. sind die Formeln, mit denen die öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall und der IG Metall bestritten werden. Vermutlich sind sie von Gesamtmetall und ihrer PR-Abteilung geprägt worden, aber die Sprecher der IG Metall haben sie offenbar unbesehen übernommen. Unzweifelhaft ist jedoch, daß ihre Semantik verschleiert, was gemeint ist: Die Löhne sind zu hoch, die Arbeitskosten müssen abgesenkt werden; das sei der einzige Weg, den "Standort Deutschland" zu retten und die Arbeitslosigkeit zu verringern.

Schon allein mit dem Begriff "Reform des Flächentarifvertrages" wird wie selbstverständlich unterstellt, es gebe einen unbezweifelbaren Reformbedarf. Die Rede von der "Modernisierung der Tarifpolitik" suggeriert, die bislang praktizierte Tarifpolitik sei veraltet - und wer möchte schon unmodern und hinter dem Zeitgeist zurück sein? Die Formel von der "Öffnung der Tarifverträge" gaukelt neue Freiheiten für die Betriebsräte und Betriebe vor, frei von der Gängelung durch schematische Regelungen, wie es sich für selbständig handelnde "Wirtschaftsbürger" geziemt. Noch schöner ist die Wendung von den "Branchenfenstern": Sie verspricht Aussicht auf eine rosige, jedenfalls bessere Zukunft eines ganzen Wirtschaftszweiges. Wer zum Teufel kann etwas dagegenhaben? Gewiß - das können Gewerkschafter nicht meinen, wenn sie solche Formeln in öffentlichen Erklärungen verwenden. Sie in Fernsehdebatten zu verwenden, mag Konzilianz und Verständigungsbereitschaft signalisieren, ihr unreflektierter Gebrauch in der innergewerkschaftlichen Diskussion indessen ist selbstzerstörerisch. Er verfestigt das neoliberale Dogma, daß Deregulierung und Lohnverzichte unvermeidlich sind. Letztlich läuft es darauf hinaus, Lohnarbeiterinteressen zu delegitimieren.

Aber auch die Begriffe, an denen sich die Defensivpolitik der Gewerkschaften orientiert - "Beschäftigungssicherung", "Sozialverträglichkeit", "Standortsicherung" - sind nicht frei von prekärem Nebensinn: Er bezieht sich vor allem auf die "Sicherung" von Beschäftigung und Arbeitsplätzen. Angebracht ist er allein - und auch das nur mit Einschränkungen -, wenn es um die Bewältigung von akuten Krisen in Betrieben oder Branchen geht, also um Härtefälle, in denen der Personalabbau verlangsamt und "sozialverträglich abgefedert", aber nicht verhindert wird. Irrig ist schon das Attribut "Beschäftigungssicherung" für die Vereinbarungen in der Automobilindustrie, denn der verbesserte Schutz der Stammbelegschaften wurde mit Konzessionen erkauft, während der Personalabbau ungebremst weiterging. Überdies stehen die Vereinbarungen stets unter dem Vorbehalt, daß die Planungsgrundlagen der Konzerne sich nicht "einschneidend ändern".

Irreführend ist jedoch vor allem die gewerkschaftliche Rhetorik der "Sicherung" von Beschäftigung, Standorten und Arbeitsplätzen - als könne die tatsächlich durch die Politik der Gewerkschaften, direkt oder indirekt, durchgesetzt werden. Mit ihr verhält es sich wie mit der Rede von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU), die Renten seien sicher: Niemand nimmt ihm das ab.

Ebensowenig wird den Gewerkschaften abgenommen, daß sie "Arbeitsplätze sichern", mit welchen Vereinbarungen auch immer. Soviel hat auch noch das letzte IG Metall-Mitglied vom marktwirtschaftlichen Einmaleins begriffen, daß in kapitalistischen Ökonomien Beschäftigung keine autonome Zielgröße ist und daß die Gewerkschaften, auch wenn ihre Vertreter in mitbestimmten Aufsichtsräten sitzen, keinen wirksamen Einfluß auf die entscheidenden Größen, Gewinne und Investitionen haben.

Daß die Gewerkschaften an der Arbeitslosigkeit wirklich etwas ändern könnten, glaubte ernsthaft keiner der befragten Betriebsräte und Vertrauensleute. Daß die gewerkschaftliche Rhetorik so tut, aIs könnten sie es, macht sie "unglaubwürdig" ("Unglaubwürdig" war eine der Formulierungen, die in der Kritik der IG-Metall-Politik am häufigsten verwendet wurde). Die Meinung der Arbeitnehmer zum Thema Arbeitsplatzsicherheit dürfte eine jüngst in der FAZ veröffentlichte Repräsentativbefragung recht genau und realitätsgerecht wiedergeben: Auf die Frage, ob es für die meisten Firmen ein wichtiges Ziel sei, "möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten" oder aber "Produktionskosten zu senken und den Gewinn zu steigern", meinten lediglich neun Prozent der gesamten Bevölkerung, den Betrieben ginge es noch um den Erhalt der Arbeitsplätze, 82 Prozent aber, daß es ihnen vor allem anderen um die Gewinne geht; bei den Arbeitnehmern in Betrieben über 300 Beschäftigten waren es sogar 89 Prozent (FAZ, 12. März 1997).

4. Die falsche Sprache in der gewerkschaftlichen Diskussion muß zur Desorientierung bei den Mitgliedem führen, auch bei den aktiven. Dies zeigt sich vor allem darin, daß auch bei den engagiertesten Gewerkschaftern interessenbezogene Deutungen der gegenwärtigen Krisensituation nur ansatzweise vorhanden sind oder aber völlig fehlen. Daß die gebeutelten und desillusionierten Betriebsräte und auch viele Vertrauensleute die Propaganda der Unternehmensleitungen mitsamt dem Jargon der Betriebsberater reproduzieren, aber nicht durchschauen, kann daher nicht überraschen. Der gewerkschaftspolitischen Desorientierung entgegenzuarbeiten, hieße vor allem, Klartext zu reden. Regelungstechnische Arrangements werden an den Problemen in den Betrieben, die von der Globalisierung des Wettbewerbs ausgelöst werden, nichts ändern. Das ahnen auch die Mitglieder.

Daß die Tarifabschlüsse, mit Ausnahme des Jahres 1995, seit Jahren auf Reallohneinbußen hinausliefen, erkennen alle an ihrem Geldbeutel. Klartext reden hieße daher auch, der neoliberalen Hegemonie eine eigene Analyse und Diagnose der gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Krise entgegenzustellen, die die Interessen von Lohnarbeit und Kapital wieder ins Zentrum rückt. Wenn schon in der FAZ (25. März 1997) zu lesen ist, daß neuerdings wieder von "Kapitalismus" gesprochen wird, nicht mehr von "sozialer Marktwirtschaft", und mit "Kapitalismus" auch wieder "die Arbeiterschaft und der Arbeiterprotest auf den Plan treten", dann sollte die IG Metall das beim Wort nehmen.