Begehrte Mutter

<none>

Am 16. November wurde in Seattle/ Washington die Lehrerin Mary LeTourneau zu 80 Tagen Gefängnis verurteilt, weil sie mit ihrem 13jährigen Schüler über acht Monate hinweg ein Verhältnis hatte. Wer - wie z.B. die Kinderschutzgruppen - das geringe Strafmaß anprangert, vergißt, mit welchen Auflagen diese mehr symbolische Bestrafung verbunden ist. LeTourneau muß sich nicht nur einer Therapie für Sexualstraftäter unterziehen, sie darf ihren ehemaligen Liebhaber ebenso- wenig sehen wie die gemeinsame Tochter. Bestraft wurde nicht die Tat, Sex mit Abhängigen, sondern die soziale Inkompetenz von LeTourneau als Mutter und Erzieherin.

LeTourneau und ihr Schüler beteuerten, daß sie die Verbindung aus Liebe eingegangen seien. Das stimmt selbst die Mutter des Jungen milde gegenüber der Täterin. Dieses Wort "Liebe" scheint in unserer entzauberten, rationalisierten Gesellschaft die Fratze der Sentimentalität aus der Box zu locken. In Deutschland stehen Abhängige oder Schutzbefohlene unter 18 Jahren unter dem gesetzlichen Schutz vor sexuellen Übergriffen, unabhängig davon, ob der Sex freiwillig war. Und das macht Sinn, weil man auch in einer nachaufklärerischen Zeit den "freien Willen" von Abhängigen in Frage stellen muß.

Für den jungen Mann war ein Traum in Erfüllung gegangen, der fast schon zu den Initiationsriten Pubertierender gehört: die heiß geliebte Lehrerin erwiderte die Gefühle. Nun kann ein Pubertierender aber noch nicht unterscheiden zwischen Verliebtheit und pädagogischem Eros, jenem sehr persönlichen subtilen Verhältnis zwischen Lernendem und Lehrendem, das die Lust zu wissen und die Lust, Wissen zu vermitteln, meint. Von Erwachsenen hingegen kann man das sehr wohl erwarten.

Gesellschaftlich akzeptiert werden ungleiche Verbindungen, wenn z. B. ein Professor seine wesentlich jüngere Studentin heiratet. Ist LeTourneau deshalb eine radikale Vorkämpferin all der Frauen, die sich neuerdings das Recht herausnehmen, ebenfalls jüngere Liebhaber zu haben? Das Herr-und-Knecht-Verhältnis hat sich, wenn man ihre Verbindung mit einem 13jährigen als heterosexuelle Beziehung überhaupt ernst nehmen will, doch bloß umgekehrt. Es ist bekannt, daß sich im Herr-Knecht-Verhältnis die Sehnsucht nach Anerkennung versteckt. Daß ein Schüler von seiner geliebten Lehrerin Anerkennung haben möchte, ist sehr verständlich. Warum aber will eine Erwachsene von einem 13jährigen anerkannt werden und als was?

LeTourneau hatte bereits vier Kinder, als sie mit ihrem Schüler die Tochter bekam. Sie war Mutter, und das bedeutet in unserer westlich-kapitalistischen Zivilisation, eine vollständig entsexualisierte Figur, nicht mehr Subjekt ihres Begehrens zu sein und als Folge davon auch eine mangelhafte soziale Subjektivität zu haben. Die Anerkennung, die sich nur phantasieren läßt, scheint von LeTourneau dort gesucht, wo die Ursache für den Verlust und den Mangel imaginiert wird: beim Kind im allgemeinen, das sie, ganz allgemein, als Mutter spiegelt. Dadurch wird die Tat nicht weniger sträflich. Bei dieser lebensgeschichtlichen Regression wird ein Kind dazu benutzt, es einem Mann heimzuzahlen, der eine Frau zur Mutter gemacht hat. Dieser Mann, der Ex-Ehemann, ist mit den vier Kindern nach Alaska übergesiedelt - und hat sich so seiner "Bestrafung" entzogen.

Der Richterin vorzuwerfen, sie hätte bei einem Mann ein härteres Urteil gesprochen, ist kurzsichtig. Im Strafmaß und seinen Auflagen verbirgt sich nicht Frauenfreundlichkeit. Eine hohe Haftstrafe hätte bedeutet, daß sich LeTourneau für ihre Tat verantworten muß. Der Entzug des Liebhabers und der gemeinsamen Tochter aber ist eine Weise, eine Frau zu strafen, die gegen die traditionellen weiblichen Rollen, Mutter und Erzieherin zu sein, verstoßen hat. Die Boshaftigkeit des Urteils liegt darin, daß LeTourneau auf diese Rollen festgeschrieben und auf ihren Platz in der gesellschaftlichen Ordnung zurücksortiert wird.