Die Normalität der Bilder

Die Arbeitsgruppe "Cinematographie des Holocaust" traf sich in Hamburg. Von Dietrich Kuhlbrodt

Von altersher konditioniert, in Akten zu wühlen, tragen die Historiographen getrost nach Hause, was sie schwarz auf weiß besitzen. Zu wenig! Zu einseitig! Zu sehr Täterperspektive, wenn man an die vielen Opfer denkt, die sich sehr wohl artikuliert haben - mündlich und auf dem Tonband. In Deutschland war die Oral History den Geschichtsschreibern bekanntlich von außen aufgedrängt worden - von den Geschichtswerkstätten.

In Hamburg fand es nun die Arbeitsgruppe "Cinematographie des Holocaust" an der Zeit, ein historiographisches Bewußtsein für Bild-, Foto- und Filmdokumente zu entwickeln: für etwas, das man dann Visual History nennen müßte. Denn die Opfer blicken auch auf den drei Millionen Fotos der Propagandakompanien zurück. Ahlrich Meyer (Oldenburg) stellte sein Mammutforschungsprojekt auf der Tagung vor. Nun ist es zwar eine alte Technik, das eine im anderen zu finden, zum Beispiel den Atheismus im Christentum, aber das war schon vor dreißig Jahren, und der Forscher war kein Historiker, sondern von der philosophischen Disziplin und hieß Ernst Bloch.

Sich interdisziplinär zusammenzusetzen, dazu nahm man sich jetzt in Hamburg die Freiheit, und zwar abseits der Universitätsstrukturen. Im frisch renovierten Warburg-Haus trafen sich Vertreter freier Institute. Projektiert wurde das Schwerpunkt-Thema "Antisemitische Bilder - Antisemitismus im Bild" vom Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main, und dem Bremer Institut Film und Fernsehen (Thomas Mitscherlich). Veranstalter war CineGraph - Hamburgisches Centrum für Filmforschung (Hans Michael Bock) in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung und der International Study Group for Trauma, Violence and Genocide. Es wurden Fotos gezeigt, Filme projiziert und die neuesten Erkenntnisse der Mentalitätsforschung beachtet.

Der kürzeste Filmschnipsel ergab knapp zweieinhalb Minuten, hatte das Jerusalemer Archiv Yad Vashem 600 Mark gekostet und wurde mit anderen Augen gesehen, als das Zentralamt zur Regelung der Judenfrage in Böhmen und Mähren sich das im Mai 1942 gedacht hatte: Der SS-Propagandafilm "Theresienstadt, ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet" (bekannt auch als "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt"), als Fragment erhalten, konnte vor wenigen Wochen um zwei Sequenzen ergänzt werden.

Der Ältestenrat der jüdischen Selbstverwaltung hört einer Rede des Vorsitzenden Paul Eppstein zu; einer von ihnen wagt unter Mißachtung des Führerprinzips in - so sollten es unsere Großeltern sehen - typisch jüdischer Disziplinlosigkeit einen Zwischenruf. Wir hören nicht, was er ruft. Denn nach wie vor fehlt die Tonspur. Daß es sie gibt, wissen wir jetzt. Denn in einer Einstellung ist zu sehen, wie der Tonmann seinen Galgen ins Bild hängen läßt.

In einem anderen Sequenzbruchstück tritt der KZ-Insasse Heinrich Klang, zuvor Richter und Hochschullehrer in Wien, vor dem Gericht der jüdischen Selbstverwaltung auf. Er, der wie alle anderen gezwungen worden war, Theresienstädter Normalität zu fingieren, ist ebenfalls, wie alle anderen, nach den Dreharbeiten in Auschwitz vergast worden. Womöglich wird der Theresienstadt-Filmforscher Karel Magry, Utrecht, weiteren Fragmenten des Films auf die Spur kommen. Auf dem Markt, der sich für Bilddokumente der Holocaust-Zeit entwickelt, kursieren Film-Schnipsel, deren Verlust ignorante Archive, zum Beispiel in Tschechien, bis heute nicht bemerkt haben.

Magry, europäischer Repräsentant der Londoner Foto- und Text-Vierteljahreszeitschrift After War, berichtete von detektivischer Spurensuche - und von seiner Publikumszeitschrift, die sich in England, den USA und in europäischen Opferstaaten selbst trägt, im Täterdeutschland dagegen kein Interesse weckt, schon gar nicht wissenschaftliches.

Ja, und warum sollte sich die Wissenschaft denn auch mit einem Lügen-Film befassen? Und ist es nicht verdächtig, das Wort: Normalität? In der Tat. Denn die Normalität der Bilder war, jedenfalls eine Zeit lang, Nazipolitik. Geworben werden sollte für den Zwangsarbeitermarkt: für die Akzeptanz, jüdische Arbeitskraft als billiges Produktivmittel einzusetzen. Das war die These von Hannes Heer (Wehrmachtsausstellung), der den eindringlichen Blick der Propagandakompanie-Fotografen auf jüdische Gesichter eben nicht, wie sonst gern behauptet, als heimliche Sympathie deutete, sondern als Nähe, deren nächster Schritt dann die Verfügbarkeit der Arbeitskraft wäre.

Zum gleichen Ergebnis kam auch die Film-Recherche zu "Asien in Mitteleuropa", vorgestellt von Ronny Loewy (Fritz Bauer Institut) und Thomas Mitscherlich (Bremen). Diese vorgebliche Dokumentation über das ganz normale Leben im Warschauer Ghetto wurde wie der Theresienstadt-Film im Mai/Juni 1942 gedreht - noch vor der Umsetzung der Politik der unmittelbaren Vernichtung. Bekannt sind aus diesem Film die Bilder, die zeigen, wie Kinder, die Möhren und Wurzeln schmuggeln, ertappt werden. Auch dieser Film ist bis ins kleinste Detail inszeniert worden: Kinder suchen sich gegenseitig die Läuse aus dem Haar, die Älteren ziehen sich nackt aus, um zu duschen. Die Reichen gehen achtlos an den Bettlern vorbei. Die Hygiene wird beachtet. Die Arbeitsfähigkeit ist gewahrt. Die Produktionsbedingungen sind vorhanden. Tagebücher der Zwangsdarsteller belegen, wie grausam und zynisch die Dreharbeiten waren.

Es spielt daher kaum eine Rolle, ob die inzwischen berühmt-berüchtigte Kinder-Szene authentisch ist oder nicht (sie ist es nicht). Denn der Ausdruck des Entsetzens trifft uns heute mit aller Wucht, auch wenn es das Entsetzen ist, vor der Nazi-Kamera diese Rolle spielen zu müssen. Selbstredend ist es unser Kontext, der diese Perspektive (Juden als Opfer) definiert. Die Mentalität der Zuschauer der Nazizeit, so waren sich die Diskutanten dieser Tagung einig, führte zu einer ganz anderen, nämlich der von den Bildproduzenten gewünschten Reaktion: statt Mitleid für die Kinder des "Asien in Mitteleuropa" reagierte der zeitgenössische Zuschauer mit Ekel, Abscheu und Verachtung.

Unser Retro-Blick ist sozusagen falsch. Bilder haben es an sich, vieldeutig und daher auch mannigfach interpretierbar zu sein. Die Tagung beschäftigte sich daher mit den verschiedenen Kontexten, die das Focussieren in die gewünschte Richtung lenken. Von den Bildern des Antisemitismus im vorigen Jahrhundert (Referat: Elisabeth von Hagenow) über die Juden-Darstellungen im deutschen Kino bis 1933 (Referat: Evelyn Hampicke) bis zu "Juden im Visier der 'Deutschen Fotografie' 1933-1945" (Referat: Hanno Loewy) wurde die Ambivalenz der Bilder immer mehr zurückgedrängt.

Hitler forderte zur Durchsetzung der Judenpolitik statt eines Antisemitismus des Gefühls, einen der Vernunft. Niemand sollte sich auf den guten Juden berufen, den er eventuell individuell kannte. In der Vielzahl der verschiedensten, auch gutnachbarlich erscheinenden Juden-Charaktere sollte zum Ausdruck kommen, wie geschickt das Weltjudentum sich hinter stets wechselnden, auch vertrauten Masken tarnen konnte. Dem Fotografen und Lichtbildner oblag daher, die semitische Vielgestaltigkeit (die Charaktere des Gemeinwesens von Theresienstadt; die vielen spezifischen Schichten des in Warschau ghettoisierten Asiens) zu zeigen - eben ganz anders als die veralteten Stürmer-Karikaturen - und als Maskenvielheit kenntlich zu machen. Da dieser Kontext Allgemeingut war, kam damals niemand auf den Gedanken, die beim Schmuggeln ertappten Kinder als Individuen wahrzunehmen und über Kolbenschläge zu weinen. "...ohne Masken" nannte Hanno Loewy seinen Vortrag.

Die Bilder-Forschung steht erst am Anfang. Auf der Hamburger Tagung konnte man sich nicht einigen, ob die Judendarstellung im Stummfilm "Landstraße und Großstadt" (1921) damals antisemitisch war, oder ob sie es erst durch unseren Retro-Blick geworden ist. Kortner als schmieriger Ostjude und millionenreicher Spekulant sitzt als Spinne in einem bildfüllenden Netz und greift sich die züchtige deutsche Maria. Ging es nicht vielmehr um die Frau als Opfer, wurde in der Diskussion gefragt (auch ein Retro-Blick!). Gab es nicht im Film sogar einen guten Juden (Konrad Veidt als Ur-Udo-Kier)? War der aber nicht verbal, sondern nur durch Schläfchenlocken ausgewiesen? Hatte er nicht gar einen spitzen Hut aufgehabt? Hatte sich jemand darüber 1921 Gedanken gemacht? Die Diskussion wird weitergehen. Zunächst im Februar 1998 auf den Berliner Filmfestspielen. Dort wird "Landstraße und Großstadt", stumm und in Farbe (viragiert), erstmals wieder der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Sind Re-Visionen nötig? Diese Frage zum NS-Kino stellen (Jan Hans, Germanist), heißt sie beantworten. Öffentlich gezeigt wurden auf der Hamburger Arbeitstagung drei Filme im kommunalen Metropolis-Kino: Spielbergs "Schindlers Liste", Winzentsen/Mitscherlichs "Der Fotograf" und Winzentsens "Die Anprobe". Jan Philipp Reemtsma untersuchte die Affekte, die der vielleicht manchmal etwas kitschige Hollywood-Film auszulösen im Stande sei. Ich selbst meinte auf den Rezeptions-Gau hinweisen zu müssen, die dem daran völlig unschuldigen Film in Deutschland widerfahren sei. Die Zeit hatte zutiefst erfreut getitelt: "Hollywood bewältigt die deutsche Vergangenheit", und zwar "endgültig". Die FAZ lobte die "Heldengeschichte" und "daß dieser Held ein Deutscher ist" (Frank Schirrmacher). Der Spiegel propagierte in seiner kathartischen Schlagzeile den "guten Deutschen". Bis hinunter zum Prinz ("ein Pflichtfilm", hineingehen wie in einen "Gottesdienst") war uns Deutschen vor drei Jahren eine unbelastete nationale Identität eingeredet worden: geschäftstüchtige Judenretter, unverhofft. - Eine Bewältigungslüge.

Winzentsen/Mitscherlich ließen dagegen in ihrem Werk den Bildern die gefährliche, attraktive und sehr reale Ambivalenz. Nichts ist "endgültig", gar von oberen Kultur-Autoritäten für uns erledigt. Die Strukturen sind nicht abgeschafft: die Ordnung des Schmetterlingssammlers ("Die Anprobe"), die Ordnung des Bombengeschwaders, die Ordnung des Schiffeversenkens ("Der Fotograf"), die Ordnung des Menschenvernichtens (der Holocaust), die Normalität des Arbeitermarkts: - die Bilder, die zwischen Faszination und Verwerfung oszillieren, sind dem kollektiven imaginären Unterbewußtsein entsprungen. Sie sind Orte der nächsten Nähe, noch näher als die Orte des Erinnerns, die Straßentafel-Schrippe vor dem Bäcker auf den Straßen Schönebergs.

Über die Bilder-Rezeption zu sprechen - das könnte einen neuen interdisziplinären Diskurs eröffnen. "Zwischen Faszination und Verwerfung/Der dokumentarische Blick auf das Böse" hieß die Tagung, die Filmwissenschaftler (und nicht Historiographen) drei Wochen zuvor in Wien veranstaltet hatten.