18. Auf der Sierra

<none>

Mit dem Mann zu kopulieren, den sie liebte, wäre Sierra nicht in den Sinn gekommen, bevor sie Icke kennenlernte. Als Sakrileg wäre es ihr erschienen, als Verunreinigung spiritueller Gedanken. Reinstecken, rumturnen, abwischen: Alles ganz witzig, doch wie unangemessen der Tiefe des Namens der Liebe.

Sie saßen auf dem Balkon, als Max Klebe vor dem Türkenhaus im Meisental erschlagen wurde. Sierra las im Kunstforum, um festzustellen, daß eine Mäzenin namens Eckes-Chantré eine bedeutende Kunstsammlung besaß, während Icke dem Klangteppich lauschte, der vom Städtchen flatterte, wie wenn die bunten Fahnen wehen.

"Sie randalieren wieder", sagte Sierra, bevor das Unglück geschah, "holst du mir noch ein Bier?" Icke nickte, gleichmütig, wie man einem Sonnenuntergang zunickt, den man nicht mehr sehen kann. Das war im Spätsomme '91, wie gesagt, und der Krach, den die nationale Rechte in Gestalt einiger Jungmannen seit Feierabend veranstaltete, war mäßig.

Gelegentlich zersprang eine Flasche, rief eine heisere Stimme "Kanaken raus!", aber ohne Emphase, und das Geröhre der Deutsch-Rocker vom CD-Player klang so eintönig wie ein Mähdrescher mit defektem Keilriemen. Genauso gut hätten sie singen können: "Wir are the champions."

Auch Sierra, die eigentlich Enikö hieß, und eine skurrile Ehe mit einem bayrischen Baron Enzo hinter sich hatte, nahm die Randale nicht sonderlich ernst.

Ich kannte ihre Ehegeschichte, in der viel von Enzos Jagdgewehren die Rede war, weil ich alle Jubeljahre bei Icke reinschaute, und dank Enikö, die Wörter wie "Rotarier", Rotwild" und "Rute" mit so viel "Rrrrr" aussprach, daß einem der Gulasch von der Gabel sprang, gab es bessere Getränke als beim dritten Mann meiner Mutter, einem einarmigen Banditen, der mit Kennermiene eine bräunliche Plörre Marke Chantré, die er Cognac nannte, oder den Eckes Edelkirsch aus der Schrankwand holte.

Im übrigen stand die Sache damals in allen Käsblättern, nicht nur in München, und ein bekannter bayerischer Sozialforscher hat mal einen Essay darüber geschrieben.

Icke war ein bekannter Maler, als Enzo Amok lief, und Sierra, die an der Schwabinger Kunstakademie bei einem Professor studierte, der in Kunstkreisen "der grüne Star von Bogenhausen" genannt wurde, weil er jeden Grashalm einzeln malte, war schon vor ihrer Geburt aus Ungarn geflüchtet. Entweder vor den Nazis oder den Russen. So genau wußte sie das nicht.

Im wesentlichen ging es darum, daß ihr Adelsmann sie selber nicht begatten mochte, sondern Befriedigung nur erlebte, wenn sie von einem ordinären Lümmel bestiegen wurde, der beim Geschlechtsakt Cowboystiefel tragen mußte.

Enzo saß dabei, derweil Sierra sich abrackerte, nippte am Enzian, fotografierte das liebende Paar von allen Seiten, vertraute dem Tagebuch seine Gefühle an, und hörte dazu die Schnulzen aus den fünfziger Jahren. Einem der Musikstücke verdankte Enikö ihren Kosenamen:

"Der Südwind der weht und der Gaucho der steht auf der Sierra!"

Enzo stand auf Enikö wie der Gaucho auf der Sierra, und schon das Vorspiel, wenn er durch den Tengstraßenkeller strich, den Donisl, den Matthäser, auf der Suche nach Erfüllungsgehilfen seiner Lüste - das Abtaxieren der Ärsche und Hüften, der flüchtige Blick auf die Rute unterm Hosenbein -, verschaffte ihm freudige Schauer, die er mit Freibieren vergalt.

Immer kleiner wurde Enzo in den folgenden Anbahnungsgesprächen, spiegelte fälschlich mißbildungsbedingtes Unvermögen seinerseits vor, entwarf eine Gattin, deren heimliches Rufen man nicht so unerhört lassen könnte, vereinbarte Entlohnung, blieb nobel, wo ihm kumpelhaftes Verständnis entgegenschlug, seufzte edel, wenn man Mitgefühl äußerte und sprach nur von Liebe und ehelicher Pflicht, so als ginge es um die Berufung eines Hausdieners.

Sierra litt ein wenig unter Enzos Stellvertreterei, sehnte sich manchmal nach seiner hünenhaften Gestalt, dem prächtigen Gemächte, warf ihm in Gedanken vor, daß er stets beides erleben durfte, Wunsch und Erfüllung, während ihr nur die Schauspielkunst zustand, und wußte doch, daß es unfair war, derlei krumm zu nehmen, denn ihm mußten sie ja gefallen, die Zuchtbullen, Hengste, Eber und Stiere, nicht ihr.

Wieviele Enzo für Liebesdienste entlohnte, weiß ich nicht. Feststeht, daß Icke, der damals die Münchner Bussigesellschaft mit Gemälden versorgte, deren bunte Monochromie ihren Lebenshöhepunkten entsprach, nicht auf seiner Gehaltsliste stand.

So entwarf Leben Unvermeidliches. Als Icke sie nahm, meinte Sierra, entjungfert zu werden und mehr noch: geschändet, so ungewohnt war der Einklang von Subjekt und Objekt. Schlechtes Gewissen war einprogrammiert, denn bisher hatte sie zwar zahllose Männer besessen, den eigenen jedoch niemals betrogen, denn er war es ja, der sie ihr zuführte.

Enzo erschrak, als er Zeuge für Sierras Treuebruch wurde und vergaß zu fotografieren. Ein fremder Mann in seinem Bett, da half kein Stiefel und keine grüne Schürze. Zwar war alles wie immer, doch das Wichtigste fehlte: Nicht er hatte den Jungen ausgewählt und nicht er honorierte ihn.

So nahm verschlungenes Leben seine erklärliche Bahn. Blut wallte, Stimme wurde brüchig, Verstand setzte aus, eine Schranktür knarrte, eine Frau kreischte, eine Standuhr schlug, Schüsse hallten, Personal eilte, Telefone schrillten, Martinshörner gellten und so weiter. Redaktionen in Aufruhr, Welten im Zusammenstoß und ein schönes Begräbnis für einen edlen Mann aus altem Adel, vor dem alle Gamsböcke in Ehrfurcht erstarrten.

Als Sierra aus dem Koma erwachte, war die Beisetzung vorbei, der wesentliche Inhalt von Fotoalben und Tagebüchern bekannt und das Testament eröffnet, das ihr nicht nur ein sorgenfreies Leben versprach, sondern auch einen bequemen Rollstuhl vom Feinsten, denn sie blieb querschnittsgelähmt.

Icke dagegen hatte einen Kopfsteckschuß erhalten und war erblindet, so daß die zwei Liebenden fortan als Symbiose auffielen. Und da sie gelernt hatte, mit Pinsel und Farbe umzugehen, ohne mehr als banale Stilleben hervorzubringen, und er stets schon, dem Zeitgeist folgend, Bilder gemalt hatte, die ebenso gut andere für ihn hätten malen können, war auch der Verlust für die abendländische Kultur kalkulierbar.
Aber was wollte ich sagen?
Ach ja: Der Abend als Max Klebe vor dem Türkenhaus im Meisental erschlagen wurde. Er kam aus dem Gasthof zum kühlen Grund, wo er den Nachmittag mit Bierchen und Doppelkopf verbracht hatte, blickte hinauf zum Städtchen, das sich nurmehr als Scherenschnitt darbot, schwarz stand gegen den Abendhimmel das Korsett, aus dem die Giebel der Ackerbürger und die vierschrötige Stadtkirche ragten, und achtete nicht der Steine, die seinen Weg kreuzten.

Eine handliche Grauwacke traf seine linke Schädelbasis, von dort kommend, wo die Wacht am Rhein vor ihrer Laube zechte, und so sackte er nun also im letzten Schein der goldenen Abendsonne auf einem kleinen Poller in sich zusammen, die Hände schlaff im Schoß, den Kopf über die Hände hängend, und druckste ein wenig herum, doch keiner hörte ihn.

Verbockt steuerte er auf den kleinen Tränenerguß zu, der ihn entlasten würde, doch niemand schien seinen Exitus zu bemerken. Wirklich niemand? Doch, Sierra.

"Komisch", sagte Sierra, als Klebe schon seitlich in den Staub der Straße gesackt war, "es ist auf einmal so still. So früh haben sie aber noch nie aufgehört zu randalieren." Icke nickte, gleichmütig, wie man einem Sonnenuntergang zunickt, den man nicht mehr sehen kann.

Wie's weitergeht mit dem Stein am Kopf des pensionierten Museumsführers, der drei Stunden lang ohne Punkt und Komma über die Kunst der Niederlande reden konnte?

Ein andermal, ein andermal!

Nächste Woche: "Ickes Gespür für Farben"