Die Leistungen überwiegen

Eine Volksgemeinschaft von der IG Metall bis zu den Republikanern sorgte dafür, daß der Rüstungsfabrikant und KZ-Profiteur Karl Diehl Nürnberger Ehrenbürger wurde

Die Hauptrolle in diesem Drama spielt der heute 90jährige Karl Diehl, rüstig und zählebig wie viele alte, gute Deutsche. Diehl ist immer noch Seniorchef eines Rüstungskonzerns mit knapp 13 000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 2,7 Milliarden Mark. Den Grundstein seines ökonomischen Erfolges legte Diehl in der NS-Zeit. 1938 übernahm er die Firmenleitung und baute das Unternehmen zu einer der bedeutendsten Waffenschmieden Nazi-Deutschlands aus. 1943 wurde er deswegen für das Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse vorgeschlagen. Begründung: Diehl habe seine Fabrikanlagen in hervorragender Weise für die Rüstung genutzt und seinen Personalstand zwischen 1939 und 1942 fast verdreifacht. Großenteils war die Personalaufstockung sehr kostengünstig, da das Unternehmen ZwangsarbeiterInnen anforderte und Produktionsstätten in den Konzentrationslagern Stutthof, Flossenbürg und Groß-Rosen unterhielt.

Peterswaldau war ein Außenlager des KZ Groß-Rosen. Dort stellten über 1 000 Frauen für Diehl Zeitzünder her. In Nesciona bei Tel Aviv treffen sich noch heute Überlebende aus Peterswaldau. Immer steht die Häftlingszeit im Mittelpunkt der Gespräche. Früh um fünf Uhr war Appell, dann marschierten die Frauen zu Diehl und mußten zwölf Stunden hart arbeiten. "Jedesmal, wenn ich meine Arbeitslupe weglegte, kam der Meister mit dem Hammer und schlug mir auf die Finger", berichtete Helga Wolfowicz (64) der Nürnberger Medienwerkstatt, die einen Filmbeitrag zum Thema produzierte.

Für Henia Golombiarska (72) war das Verbot, zur Toilette zu gehen, die demütigendste Erfahrung. Aufgrund der schlechten Ernährung litten viele Frauen an Bauchkrämpfen und Durchfall. Austreten war aber nur zweimal pro Tag erlaubt. "Wir konnten bitten und betteln, wir mußten in die Hose machen."

Frieda Poremba berichtet von wöchentlichen Selektionen durch Angestellte der Firma Diehl: "Die Meister haben gesagt, die und die ist arbeitsunfähig, dann kam eine Kommission und hat die Mädels mitgenommen. Wir haben sie nie wieder gesehen." Für Schläge, Demütigungen und Selektionen machen die ehemaligen KZ-Insassinnen einmütig die Meister verantwortlich. "Ein Meister hätte sich aber nie erlaubt, uns so zu behandeln, wenn er nicht die Direktive der Betriebsleitung gehabt hätte", folgert Helene Maringer (76). "Deshalb ist für mich letztendlich der Herr Karl Diehl verantwortlich."

1945 wurde Diehl von den Alliierten kurzfristig seiner Position enthoben. Mit der Wiederaufrüstung der BRD kam der Unternehmer aber wieder dick ins Geschäft. Mehr als 3,2 Millionen Minen hat Diehl der Bundeswehr geliefert. Zunächst ordinäre Tretminen, heute hochtechnologische Elemente der sogenannten Flächenverteidigungsmine Cobra. Einen Bruchteil seiner immensen Profite hat Diehl für den Wiederaufbau der Nürnberger Altstadt gespendet.

Nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes gelang es der Firma, einen Teil der Rüstungsanlagen in zivile Produktionsstätten zu konvertieren, ohne die Anzahl der Beschäftigten signifikant abzubauen. "Wie ein Mann" steht deshalb der Betriebsrat hinter dem Firmenboß und sammelte 2 700 Unterschriften für dessen Ehrenbürgerwürde. Angeregt hatte die Auszeichung Georg Lobodda, der Nürnberger Vorsitzende der IG Metall.

Natürlich unterstützte die seit eineinhalb Jahren in Nürnberg regierende CSU den Vorschlag überschwenglich - "eine notwendige und überfällige Geste der Stadt", freute sich Wirtschaftsreferent Roland Fleck. Die in die Minderheit geratene SPD versuchte unterdessen einen Kuhhandel: "Wir stimmen für Diehl, dafür stimmt ihr für Hermann Glaser", boten die Sozialdemokraten der CSU einen Diehl-Deal an. Glaser war lange Jahre Kulturreferent in Nürnberg gewesen und gilt als Vater der fortschrittlichen städtischen Sozio-Kultur einschließlich des kürzlich geräumten Jugendzentrums KOMM. Doch die CSU dachte gar nicht daran, Glaser zum Ehrenbürger zu machen. Er fiel durch; beleidigt votierte die SPD gegen Diehl. Trotzdem reichten die Stimmen der CSU, der rechtsradikalen Republikaner, der FDP sowie der Freien Wähler für eine satte Mehrheit für den Industriellen. Bei dieser Sitzung im März 1997 war bereits bekannt, daß Diehl vom KZ-System profitiert hatte. Detailliertere Informationen über die Arbeitsverhältnisse in seinen Betrieben wurden Anfang November durch den Film der Medienwerkstatt publik.

Während Karl Diehl beharrlich schwieg, bezeichnete Firmensprecher Dirk-Michael Zahn die Äußerungen der israelischen KZ-Überlebenden als "Verunglimpfung der Lebensleistung einer hochverdienten Unternehmerpersönlichkeit". Die Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl (CSU) sprach von einer "infamen Kampagne", ihre Kollegin Renate Blank (ebenfalls CSU) setzte noch eins drauf: "Klassenkämpferische und haltlose Vorwürfe". Die SPD wand sich wie ein Wurm und forderte plötzlich eine "Untersuchung der Vorwürfe". Selbst IG-Metall-Boß Lobodda ging vorsichtig auf Distanz.

Am 20. November vergangenen Jahres suchte Karl Diehl schließlich sein Heil in der Offensive. In einem Offenen Brief, der groß in allen Nürnberger Zeitungen inseriert wurde, behauptete er, er habe die "vom NS-Regime diktierten Forderungen bei Gefahr für Leib und Leben" erfüllen müssen. "Aber im Rahmen meiner Möglichkeiten habe ich den Menschen in meinen Betrieben die relativ besten Bedingungen gegeben".

An seine Gegner richtete Diehl belehrende Worte: "Geschichte zu schreiben, heißt in meinen Augen, Gegebenheiten der Zeit in ihren Wirkungszusammenhang hineinzustellen und vor diesem Hintergrund zu bewerten. Meine heutigen Kritiker tun dies gerade nicht." Und zum Schluß teilte Diehl mit, er habe den renommierten Berliner Historiker und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, mit einer "historischen Würdigung" seiner Firma und seiner Person beauftragt. Natürlich wußten auf Nachfrage weder Benz noch Diehl zu sagen, wie lange die Untersuchung sich hinziehen wird.

Als sich die SPD endlich durchringt, gemeinsam mit den Grünen eine erneute Diskussion um Diehls Ehrenbürgerwürde auf die Tagesordnung des Stadtrates zu setzen, kommt nochmals Leben in die Angelegenheit. Diehls ältester Sohn Werner fliegt nach Israel, um den Frauen eine Entschädigungszahlung - natürlich ohne Rechtsanspruch - und eine Versöhnung anzubieten. Daß ein Versöhnungsangebot nur von den Opfern ausgehen kann, kommt Diehl nicht in den Sinn.

Die Stadtdekane beider großen Kirchen wie die IG Metall plädieren für "Warten auf das" - von Diehl in Auftrag gegebene - "Gutachten" und warnen vor einer "Vorverurteilung", während der Verleger der Nürnberger Nachrichten, Bruno Schnell, an Diehl appelliert, seine Auszeichung zurückzugeben, um der Stadt keinen Schaden zuzufügen. Presse aus Israel und den USA kündigt sich an.

Am 10. Dezember steht die Ehrenbürgerwürde für Diehl als letzter Punkt auf der Tagesordnung des Stadtrates. Vor dem Rathaussaal filzt die Polizei interessierte ZuschauerInnen, drinnen droht die Tribüne aus allen Nähten zu platzen. Kamera-Teams treten sich auf die Füße. Im überfüllten Sitzungssaal spricht Oberbürgermeister Ludwig Scholz (CSU) von "Verstrickungen" der Firma Diehl in die "Vorgänge des Unrechtsregimes zwischen 1933 und 1945", verwahrt sich aber dagegen, "nunmehr

ausschließlich diesen Zeitraum für die Beurteilung" heranzuziehen.

Ebenso argumentiert der CSU-Fraktionsvorsitzende Klemens Gsell: Diehls Leistungen als Unternehmer und Mäzen würden "bei weitem alle Schatten überwiegen, die aus den vorhergehenden Lebensabschnitten auf das Werk dieses Mannes gefallen sind", rechnet der Jungpolitiker vor. Mit 38 zu 32 Stimmen wird Diehls Ehrenbürgerschaft bestätigt. Eine gemäßigte Gruppe innerhalb der CSU, die zumindest für "Warten auf das Gutachten" war, erliegt dem Fraktionszwang.

Der Donner aus dem Ausland folgt wenige Tage später. Der frühere Oberbürgermeister Peter Schönlein (SPD) hatte redlich versucht, der Stadt der Reichsparteitage ein fortschrittlicheres Image zu verpassen und Städtepartnerschaften mit dem israelischen Hadera sowie mit Krakau in Polen und Charkov in der Ukraine ins Leben gerufen, die beide in besonderem Maße unter dem Terror der Nazis zu leiden hatten.

Menschenrechtler wie der französische Anwalt Daniel Jacoby drohen die Jury des Menschenrechtspreises zu verlassen, den Schönlein ebenfalls gestiftet hat. Der israelische Friedensaktivist Abi Nathan erwägt, die Auszeichnung zurückzugeben. Und der israelische Künstler Dany Karavan, der in Nürnberg eine "Straße der Menschenrechte" gestaltet hat, spielt mit dem Gedanken, die dort errichteten Säulen wieder abzubauen.

Nicht nur durch die Diehl-Geschichte hat sich Nürnberg nachhaltig diskreditiert, sondern auch durch den Boykott der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Während in der Kunsthalle die vom Bildungsbereich des KOMM organisierte Ausstellung eröffnet wurde, hielt die CSU-Stadtregierung im Garnisonsmuseum eine Protestversammlung ab.

Während die örtliche Linke nun überlegt, ein Volksbegehren zu initiieren, um Diehl die Ehrenbürgerwürde wieder aberkennen zu lassen, wird wohl aus den Ambitionen der Stadtregierung nichts werden: Sie will nicht nur den neu zu schaffenden Internationalen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen nach Nürnberg holen, sondern die Stadt auch als Teil des Weltkulturerbes katalogisieren lassen.