Die russische Bombe im ICC

Großbauern, CDU-Arbeitskreise und Gorbatschow stellen die Bodenreform in Frage

Michail Gorbatschow ist seit mehr als zehn Jahren berühmt dafür, ganze Weltreiche zum Einsturz bringen zu können. Diese besondere Gabe war es wohl auch, die dem heute in seiner Heimat wenig beliebten Polit-Rentner am 1. März zu einer Einladung ins Berliner Congress-Center verhalf. Dort zauberte der einstige Präsident der UdSSR vom Rednerpult aus dann auch gut 2 000 aus der ganzen Bundesrepublik angereisten Zuhörern nach langer Zeit wieder einen Schimmer Hoffnung ins Gesicht.

Kein Wunder, schließlich saßen im Parkett einst im Osten beheimatete Grundbesitzer, die während der Bodenreform von 1945 bis 1949 ihr Land verloren hatten, oder deren Erben. Nach Bodenreformverordnungen, die die Landes- und Provinzialverwaltungen in der sowjetischen Besatzungszone noch im September 1945 erlassen hatten, waren Großgrundbesitzer mit Gütern von über 100 Hektar sowie Wirtschaften von "NS- und Kriegsverbrechern" entschädigungslos enteignet worden. Aus einem Landfonds von insgesamt 3,3 Millionen Hektar erhielten damals vor allem Landarbeiter, landarme Bauern sowie Umsiedler aus den Gebieten östlich der Oder Ackerflächen inklusive Inventar als Privateigentum zugewiesen.

Ausgerechnet vor den Verlierern dieser damals bei der armen Landbevölkerung durchaus populären Robin-Hood-Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland machte Michail Gorbatschow im ICC einen späten Rückzieher. Er widersprach - nicht zum ersten Mal - der offiziellen Darstellung der Bundesregierung, die UdSSR habe die Unumkehrbarkeit der Enteignungen im Zusammenhang mit der Bodenreform in Gesprächen 1990 zu einer Vorbedingung der deutschen Wiedervereinigung gemacht. Eine Rückgabe der Immobilien, so Gorbatschow, sei "niemals auf höchster Führungsebene angesprochen" worden. Als geradezu "absurd" bezeichnete Gorbatschow in seinem Vortrag die Behauptung, er selbst habe den Verzicht auf die Restaurierung alter Besitzverhältnisse zur Voraussetzung der Wiedervereinigung erklärt. Entschieden hätten das allein die beiden deutschen Staaten, die dann im Juni 1990 lediglich die sowjetische Seite vom Ergebnis der Verhandlungen informiert hätten.

Hier stapelte der Lenker der einstigen Weltmacht wohl etwas tief. Schließlich hatte sich DDR-Ministerpräsident Hans Modrow am 2. März 1990 in einem Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl und an Michail Grobatschow dafür eingesetzt, die nach 1945 in der DDR "entstandene Eigentumsordnung nicht in Frage zu stellen". Er bat damals die sowjetische Seite, als Siegermacht dafür einzutreten, daß das sozialistische Eigentum in der DDR unangetastet bleibe.

Kohl distanzierte sich angesichts der deutsch-deutschen Machtverhältnisse von dieser Idee Modrows. Gorbatschow jedoch meldete sich anläßlich des Dubliner EU-Sondergipfels zur deutschen Einheit am 28. April 1990 mit einem durchaus eindeutigen Memorandum zu Wort. Die UdSSR warnte darin, Gesetze und Tatsachen "in Frage zu stellen, die die vier Mächte in Fragen der Entnazifizierung, der Demilitarisierung und der Demokratisierung" ergriffen hätten. Die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse, "vor allem in Besitz- und Bodenfragen, unterliegt keiner neuerlichen Prüfung oder Revision durch deutsche Gerichte oder deutsche Staatsorgane".

Im ICC erntete Gorbatschow am 1. März nur Jubel und Beifall. Bonn und Moskau reagierten harsch. Als "unverständlich" und "nicht nachvollziehbar" bezeichnete Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) die Äußerungen Gorbatschows. Auch die russische Regierung unterstrich, daß die Unantastbarkeit der Bodenreform Bedingung der internationalen Vereinbarungen zur Wiedervereinigung gewesen war. Ein Sprecher des russischen Außenministeriums bezeichnete das Festhalten an den Enteignungen als "Eckstein bei der Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit". Wer immer an die Verpflichtungen des am 12. September 1990 unterzeichneten 2+4-Abschlußdokuments rühre, müsse wissen, daß hier einem der Grunddokumente der europäischen Ordnung Schaden zugefügt werden könnte. Selbst der sonst so ruhige Hans Modrow fuhr aus der Haut. Er warf dem "sehr geehrten Herrn" angesichts der Parteinahme für Großgrundbesitzer in einem Offenen Brief "Einmischung in die inneren Angelegenheiten der BRD" vor.

Ob Michail Gorbatschow noch in derartigen Kategorien denkt, ist fraglich. Für gutes Geld macht der Mann heute Werbespots für Pizza, tritt als Prominenter bei Stadtjubiläen auf und produziert sich in Präsidentenpose als Wettpate bei Gottschalks "Wetten, daß". Am 1. März war es eben ein Vortrag für verprellte Ost-Junker. Jedenfalls für Gorbatschow. Sein Gastgeber jedoch, der Hamburger Kaufmann Heiko Peters, hat die russische Bombe mit Sicherheit ganz gezielt am Tag der Niedersachsen-Wahl im ICC hochgehen lassen. Schließlich will er als Vertreter der Alteigentümer die bevorstehende Bundestagswahl nutzen, um den Enteigneten ihren Besitz zurückzuerobern. Das darf auch was kosten. Höhepunkt einer raumgreifenden Anzeigenkampagne in der Presse waren im Februar drei Seiten für rund 150 000 Mark im Spiegel. Unter der Schlagzeile "Hat Kanzler Kohl die Wahl bereits verloren?" droht Peters hier ganz offen, daß insgesamt 400 000 von den einstigen Enteignungen Betroffene "ihre Ankündigung wahrmachen könnten, bei der Bundestagswahl 1998 nicht wieder CDU/CSU zu wählen". Das erinnert an einen Kamikaze-Einsatz, schließlich ist Peters selbst Mitglied der CDU. Und er weiß, daß die Koalition 1994 mit lediglich 180 000 Stimmen Vorsprung das Rennen machte. Doch seiner Ansicht nach lügt Kohl eben, wenn er feststellt, die Unantastbarkeit der Bodenreform sei eine Bedingung gewesen, die die Sowjetunion für die Einheit stellte.

Die Drohung wird in Regierungskreisen ernst genommen. Dafür spricht auch der Zwischenbericht des eilig installierten Arbeitskreises "Enteignungen 1945 bis 1949", den dessen Leiter, CDU/CSU-Fraktionsvize Rupert Scholz, letzte Woche präsentierte. Danach soll Alteigentümern und auch deren Erben vor allem der Kauf der noch im Bundesbesitz befindlichen 900 000 Hektar Ackerland und 600 000 Hektar Forst erleichtert werden. Obwohl die Ackerflächen derzeit beispielsweise an Agrargenossenschaften verpachtet sind, sieht das Scholz-Papier vor, Käufer von der im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz festgeschriebenen Pflicht zur Verlängerung der Pachtverträge um mindestens 18 Jahre zu entbinden.

Die CDU-Abgeordneten aus dem Osten fühlen sich durch die Arbeitsgruppe glatt überrumpelt. Doch die Riege um Paul Krüger ist wohl nur etwas zu spät aufgewacht, schließlich saß der sächsische Bundestagsabgeordnete Michael Luther mit in jenem Arbeitskreis. Dort soll er nach Wissen von Rupert Scholz allen Beschlüssen zugestimmt haben. Die Ost-CDU befürchtet nun eine weitere Schwächung ihrer Wahlchancen. Scholz hält das alles für überzogen, schließlich sei es ihm allein um Ausgleich und Versöhnung gegangen. Oder wie sagt Kaufmann Heiko Peters mit etwas anderen Worten: Welchen Unterschied macht es denn, ob die Nachfolgebetriebe der LPGen ihre Pacht an einen Alteigentümer zahlen oder an den Staat?

Für den alten Landadel allerdings würden sich durch diesen kleinen Unterschied neue Welten auftun. Deshalb regten die Alteigentümer nach Niederlagen vor dem Bundesverfassungsgericht 1991 und 1996 in diesem Jahr zur Abwechslung mal bei der EU eine Prüfung der Förderpraktiken ehemaliger DDR-Agrarbetriebe an. Mit Erfolg: Die EU-Kommission wird noch im März ein Verfahren gegen das Flächenerwerbsprogramm und angeblich unerlaubte Subventionen für landwirtschaftliche Betriebe in den neuen Ländern eröffnen. Die Wühlarbeit geht weiter, schließlich geht es nicht um Heimatgefühle, sondern um Milliarden.