Die surreale Krankheit

Die Psychiatrie hat sich der Gesellschaft bemächtigt, der Zwang bleibt. Auf dem Foucault-Tribunal in Berlin trafen sich Psychiatrie- und Anti-Psychiatrie-Szene.

Während französische Intellektuelle vor knapp dreißig Jahren dazu aufriefen, das kritische Theater der symbolischen Politik zu verlassen, hat sich am vergangenen Wochenende die Antipsychiatrie-Szene auf einer Veranstaltung unter dem Titel "Macht Wahn Sinn" ausgerechnet in der Berliner Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz zurückgemeldet. "Foucault Tribunal zur Lage der Psychiatrie" nennt sich der Zusammenschluß von Anklägern aus der Irrenoffensive Berlin, Humanwissenschaftlern und Theaterleuten, die sich vorgenommen hatten, der Psychiatrie in einem Lehrstück symbolisch den Prozeß zu machen. Foucault figurierte allerdings nur ersatzweise als Namenspatron der Veranstalter, nachdem die Russell-Peace-Foundation es abgelehnt hatte, ein Russell-Tribunal zur "Lage der Menschenrechte in der Psychiatrie" mitzutragen.

Ist es nun Ironie, daß sich die Antipsychiatrie jene Bühne wählt, auf der sonst Castorf die schlammige Bewältigung vergangener Utopien inszeniert? Hat sie sich nicht seit den Tagen überholt, als Leute wie Jean-Fran ç ois Lyotard den Auszug der Linken aus dem symbolischen Theater forderten und es in Deutschland chic wurde, Verrücktheit als Entfremdungs-Phänomen des Spätkapitalismus zu brandmarken? Schließlich sind Generationen von Foucault lesenden Psychologen und Psychiatern in einer Institution verschwunden, deren Inneres Renate Wolff und Klaus Hartung 1972 im Kursbuch ohne Umschweife als "surrealistische Folterkammer" bezeichnen konnten.

Die etablierte deutsche Psychiatrie-Szene hat sich, im Gegensatz zur italienischen, nie dem Schlachtruf nach Abschaffung der Anstalten zu eigen gemacht. Dennoch ist der Wandel, den die Institution Psychiatrie seit den siebziger Jahren zumindest in West-Deutschland durchgemacht hat, unübersehbar. Ihre fortschreitende strukturelle Differenzierung zeichnet sich am deutlichsten im Aufbau der sogenannten gemeindenahen Sozialpsychiatrien ab. Weil auch außerhalb der eigentlichen Psychiatrie seit dem Ende der siebziger Jahre ein Therapie-Boom stattfand, hat sich die Institution Psychiatrie in die Gesellschaft hineinbewegt. Heute operiert sie als dichtes Netzwerk von ambulanter Versorgung, betreuten Wohngemeinschaften, Tagesstätten und Anstalten. Dazu kommt eine Anzahl nicht-psychiatrischer Dienstleister, die Kompetenzen für seelische Probleme beanspruchen und mehr oder weniger intensiv mit psychiatrischen Institutionen kooperieren.

Anstelle der totalen räumlichen Separation verrückter Menschen ist eine psychiatrische Struktur getreten, die am Ort des Sozialen präsent ist, ohne sich diesem zu öffnen. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich kein Zufall, daß das Foucault-Tribunal sich in Berlin konstituiert hat: Der Sonderstatus des Westteils begründete in der Stadt nicht nur die Protest- und Subkultur, zu der auch mehrere antipsychiatrische Initiativen zählen, sondern auch das dichteste psychosoziale Versorgungsnetz Europas.

Zu bestreiten, daß die "gemeindenahe" Versorgung von Menschen mit abweichendem Verhalten oder Menschen in seelischer Not von diesen oft als weniger erniedrigend und belastend empfunden wird als ein Anstaltsaufenthalt, wäre naiv. Es käme jedoch einem fatalen Fehlschluß gleich, wollte man diese Entwicklung als Selbstauflösungstendenz der Institution wahrnehmen.

Der Boom der Kinder und Jugendpsychiatrie legt ein beredtes Zeugnis für die herrschende Tendenz ab, psychiatrische Zuständigkeiten auf alle möglichen gesellschaftlichen Probleme auszudehnen. Hyperaktive Kinder landen heute genauso in psychiatrischen Strukturen wie Alkoholiker und Menschen mit Wahnideen. Die Tatsache, daß nur ein Drittel aller Psychopharmaka von Neurologen oder Psychiatern verschrieben wird, der weitaus größere Teil jedoch von praktischen Ärzten und Internisten, mag verdeutlichen, wie unsichtbar, eben surreal, die psychiatrische Praxis heute geworden ist. Neben der in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegenen Hospitalisierung von alten Menschen und Kindern, zeigt auch die Verschreibungsrate therapeutischer Drogen, wen gesellschaftliche Entsolidarisierung und Effizienzdenken zuerst treffen: Schon 1985 wurde in Nordrhein-Westfalen jede siebte Psychopille von Kindern unter 12 Jahren geschluckt. 70 Prozent aller Psychopharmaka werden nach Untersuchungen von Ingrid Füller Frauen verordnet.

Wie diese Tendenz von Psychiatern und Pharmaindustrie interpretiert wird, machte der renommierte Psychiater der Berliner Universitätsanstalt, Hanfried Helmchen, klar, als er 1978 rhetorisch (und offenbar ohne sich des Zynismus bewußt zu sein) fragte: "Wenn wir davon ausgehen, daß (...) die Anforderungen der Leistungs- und Massengesellschaft an unsere psychische Stabilität immer größer werden, muß dann nicht jede mögliche chemische Beeinflussung psychischer Funktionen auf ihre eventuelle soziale Brauchbarkeit hin untersucht werden ?"

Als am vergangenen Donnerstag Hartmut Seifert von der Irrenoffensive das Tribunal in der Volksbühne eröffnete, war der Andrang im Roten Salon groß: Ein Achtungserfolg einer ansonsten aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwundenen Bewegung, der den gemeinsamen Bemühungen von Psychiatrie-Betroffenen und engagierten Wissenschaftlern, wie dem seit langem in Sachen Psychiatrie aktiven Politologen Wolf-Dieter Narr, zu verdanken ist. Den Publikumszuspruch hat die Veranstaltung sicherlich auch ihrer dialogischen Konzeption zu verdanken, die Anklage wie Verteidigung der Psychiatrie zuläßt.

Wieviel Konfliktstoff es bereits unter den Veranstaltern gibt, bewies die Einführungsrede des Soziologen Dietmar Kamper. Er betonte, daß es einen unaufhebbaren Widerstreit zwischen den Forderungen der Antipsychiatrie nach Abschaffung von Zwangsmitteln in den Anstalten und der notwendig gewaltsamen Brechung des "Zwanges" der Verrückten "gegen sich selbst" gebe. Unbestreitbar hat er mit diesen Worten eine der Aporien der psychiatrischen Praxis angesprochen, die von den Anti-Aktivisten gelegentlich ignoriert wird. Kamper hätte sich jedoch weit glücklicher auf den jüngst verstorbenen Philosophen des Widerstreites, Jean-Fran ç ois Lyotard, berufen können, wenn er den Widerstreit nicht - die psychiatrischen Verhältnisse indirekt in Schutz nehmend - als unauflösbares Paradox konstruiert hätte, besteht der eigentliche Widerstreit doch darin, daß die Schutz- und Menschenrechte des Individuums, auf welchen das gesellschaftliche System aufzubauen vorgibt, für den als psychisch krank diagnostizierten Menschen keine Geltung mehr haben.

Sicher gibt es beispielsweise die Vorschrift, daß ein Zwangseingewiesener binnen einer Frist auch einem Richter vorgeführt wird, der die Rechtmäßigkeit der Intervention beurteilen soll. Wer aber nur einmal verfolgt hat, welchen Stellenwert in ganz normalen Kriminalprozessen Gutachten von Fachleuten einnehmen, wird sich vorstellen können, welch geringfügige Formalie diese Prozedur meist darstellt. Nach dieser rechtsstaatlichen Farce muß der oder die Gefangene ohne Einspruchsrecht über sich ergehen lassen, was die Willkür der jeweiligen Anstalts-Verhältnisse bereithält.

Das Machtgefälle in der Institution ist total: Zwangsmedikamentierung, oft stundenlange Fixierung ans Bett oder - in zunehmendem Maße - auch wieder Elektroschocks stellen nur den Gipfelpunkt der Gewalt in einer Institution dar, der die Kompetenz zugesprochen wird, Menschen zu rechtlosen Wesen zu erklären. Aus diesem Blickwinkel ist die Sozialpsychiatrie nur eine Variante; sie beurteilt den Kooperationswillen der Betroffenen und "leitet" den "Delinquenten weiter", sollte dieser nicht den Erwartungen entsprechen. Wer sich in einer betreuten Wohngemeinschaft weigert, die aufgezwungenen Psychopharmaka zu schlucken, wird bald merken, daß er die Institution noch nicht verlassen hat.

Auch der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bremen Ost, Peter Kruckenberg, gab in seiner Verteidigungsrede zu, daß das Machtgefälle in der Psychiatrie zum "Mißbrauch" einlädt und der Kontrolle bedarf. Die Psychiatrie würde zur "zweiten Krankheit", erklärte er, wenn sie nicht durch "Mitgehen" persönlichen Kontakt zu den Patienten herstelle, sondern dem Betroffenen ihre Routine überstülpe. In dieser eigentlich selbstverständlichen Aussage steckt ein enormes Zugeständnis: Daß die Institution psychische und physische Gewalt ausübt und es in fast allen Anstalten zur Normalität gehört, daß Menschen verletzt und manchmal auch zerstört werden, statt Hilfe zu erfahren.

Genauso wie der Sozialpsychiater Klaus Nouvertné verteidigte Kruckenberg jedoch psychiatrischen Zwang als Notmittel zur Abwendung von Suizid und Aggression. Scheinbar trafen sich in diesem Punkt die Ansichten des Chefanklägers Wolf-Dieter Narr mit denen der Reformpsychiater: Auch ihm geht es nicht darum zuzusehen, wie verrückte Menschen sich oder anderen etwas antun. Narr betonte jedoch, daß der Zwang nur situativ angewendet werden dürfe. Denn allzuschnell wird das plausible Argument der Reformpsychiater zur Rechtfertigung für die gesamte entwürdigende Maschinerie.

Was also in Frage steht, ist eine Praxis, die das herrschende Verhältnis von legitimiertem Zwang und Selbstbestimmungsrecht verkehrt: Statt das Selbstbestimmungsrecht des "Hilfsbedürftigen" von vornherein und prinzipiell zu negieren, muß dieses gerade in der Situation der Verrücktheit besonderen Schutz erfahren. Wolf-Dieter Narr konnte in diesem Zusammenhang auf sein Engagement für das Berliner Weglaufhaus verweisen, das aus der Psychiatrie geflohenen Menschen Schutz und Hilfe anbietet, ohne mit psychiatrischen Zwangsmitteln zu operieren. Der Chefankläger machte jedoch auch klar, daß eine solche Praxis den Abschied von einer Illusion fordert, die der Psychiatrie zu ihrem humanistischen Omnipotenzanspruch verholfen hat: Auch gesellschaftlich hervorgebrachtes Elend läßt sich nicht unbedingt wieder aus der Welt schaffen. Ein gesellschaftliches Glücksversprechen, das sich in Hygienemaßnahmen gegen das ihm offenbar Widersprechende manifestiert, desavouiert sich selbst.

Weit ab von intellektuellen Romantisierungen produktiver Verrücktheit faßte Dietmar Kamper die Forderung der Betroffenen in dem Satz zusammen: Verschone mich mit deiner Liebe, aber leiste mir Gesellschaft.