Der Deckel ist zu

Das nationale Holocaust-Mahnmal in Berlin wird gebaut oder auch nicht - Deutschland hat sich von seinen Opfern befreit. Eine abschließende Bilanz

Mal sieht es so aus, als würde nun gebaut, dann wieder, als habe es nie die Absicht gegeben, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten. Am 19. Mai meldete der Tagesspiegel, daß vor der Bundestagswahl nicht mehr entschieden werde, ob und wenn ja, welches Denkmal wo in Berlin gebaut wird. Das war bis zum Wochenende der Stand, nachdem erst im Februar und dann im April eine Entscheidung fallen sollte.

In der Berliner Zeitung war zuvor mehrmals angekündigt worden, daß Helmut Kohl sich mit Richard Serra und Peter Eisenmann teffen wolle. Kohl wollte mit dem Architekten und dem Künstler, deren Entwurf aus der letzten Wettbewerbsrunde klar gewonnen hatte, über Modifikationen ihrer Planung sprechen. Im Gegensatz zu anderen Entwürfen, die bis hin zum Busparkplatz jede repräsentative Funktion schon eingeplant hatten, fehlt dem Entwurf von Serra und Eisenmann bisher die "Kranzabwurfstelle" (Eike Geisel). Und ohne die läuft beim Kanzler gar nichts. Die beiden Amerikaner erklärten sich offensichtlich schon vorab bereit, etwaige Änderungen zu bedenken.

Am 23. Mai sah die Welt auf einmal ganz anders aus. Das ewig aufgeschobene Treffen zwischen Kohl und den Künstlern hatte am Vortag stattgefunden, und dem Vernehmen nach war es "konstruktiv". Zuvor war gemeldet worden, daß der letzte Termin für eine Entscheidung der CDU-Parteitag sein sollte, an dessen Rande sich Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth und Kohl mit den Berliner Gegnern des Mahnmals um Eberhard Diepgen verständigen wollten. Nun erwarten die Befürworter eine Entscheidung Kohls, also genau das, was sie vor drei Jahren noch kritisierten, als Kohl gegen die Megagrabplatte von Chistine Jackob-Marks sein Veto einlegte - wohl auch mit Rücksicht auf Berlins Regierenden Diepgen, der damals wie heute nicht Chef einer "Reuehauptstadt" werden möchte.

Folgen des Vetos waren der zweite Wettbewerb und eine neue Jury, der diesmal auch ausgewiesene Kritiker der Mahnmalidee angehörten. Die Entscheidung wurde solange vertagt, bis alle Befürworter auch irgendwie dagegen und alle Gegner auch irgendwie dafür waren. Alle außer Lea Rosh und Eberhard Diepgen haben ihre Meinung in den vergangenen drei Jahren mindestens einmal geändert.

Der Entwurf von Serra und Eisenmann sieht vor, 4 000 Betonstelen unterschiedlicher Höhe in den Boden zu rammen; eine Anspielung auf alte jüdische Friedhöfe. Statt einer Grabplatte nun Grabsteine - ein Denkmal, so Kritiker, das das Verbrechen unsichtbar macht, indem nur an die Opfer und zudem nur an bestimmte Opfer gedacht werde. Der Entwurf zeichnet sich jedoch in erster Linie durch seine mangelnde Explizität aus. Aber auch das kann noch geändert werden, es sollen Tafeln mit Orten der Vernichtung angebracht werden. Daß das wiederum die abweisende und anonymisierende Ikonographie der Betonstelen zerstören würde - und damit die ohnehin begrenzte künstlerische Qualität dieses Entwurfs -, wird dabei mehr als billigend in Kauf genommen. Sollten sich Serra und Eisenmann auf die "Kranzabwurfstelle" eingelassen haben, wäre der Friedhof für die ermordeten Juden perfekt und keine andere Deutung mehr zugelassen. Und so werden noch die avanciertesten Entwürfe zu kunstgewerblichen Attraktionen degradiert, um ihnen den letzten Rest von Konfrontation auszutreiben.

Dazu gehört auch der spezifische Humor des Künstlers Horst Hoheisel, der in einer gefaketen Anzeige eines "Amtes für Bundesvermögensverwaltung" das für das Mahnmal vorgesehene Gelände in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Verkauf anbot - mit einem Bundesadler mit umgedrehtem Hals. Fast vierzig Firmen forderten die Prospekte an; ihre Briefe werden nun "Teil eines Kunstwerks", wie die Firmen aus der Antwort erfahren werden. "Wer die Gedenkspirale überbieten will, muß sie erst einmal desavouieren", faßt der Tagesspiegel das Anliegen des Künstlers zusammen, der sich über den "Mahnmalsplan" geärgert habe. Worüber er sich genau geärgert hat, erfahren wir nicht, und Diepgen hat ebenfalls Interesse daran, die "Gedenkspirale zu desavouieren".

Wo es, um mit Roman Herzog zu sprechen, eine "Pflicht zur Erinnerung" gibt, läßt die Unlust, diese Pflicht zu erfüllen, nicht lange auf sich warten. Weil die Erinnerung an die ermordeten Juden den Deutschen immer ein äußerer Zwang war, konnte man ihnen das Gedenken nur schmackhaft machen, indem man an preußische Sekundärtugenden appellierte, von denen Pflichterfüllung eine ist. Wer aber seine Pflicht erfüllt, der braucht auch eine Belohnung. Jedoch ist das einzige Resultat der Debatte um das Mahnmal leider, daß es keine Belohnung geben wird, oder, wie sich Malte Lehming schon 1995 im Tagesspiegel wunderte: "Die Historisierung einer Epoche wird oft durch die Errichtung eines Monuments eingeleitet. Der Holocaust aber scheint sich dieser Historisierung zu entziehen." Je weniger sich die Beteiligten dieser Erkenntnis "entziehen" konnten, desto mehr entschärfte sich auch die Debatte, deren Argumente in einem Maße immer beliebiger werden, wie Lustlosigkeit sich breit macht.

Eine Lustlosigkeit, die beispielsweise für die Gedenkstätten der Konzentrationslager fatale Folgen hat: Die Bundesregierung stellt nicht einmal die benötigten 300 000 Mark zur Restaurierung der sogenannten jüdischen Rampe in der Nähe von Auschwitz-Birkenau zur Verfügung, wo die ersten Selektionen stattfanden, bevor die Gleise direkt zu den Gaskammern verlängert wurden.

"Ein Mahnmal ist in Berlin eine Prestige-Angelegenheit der Bundesregierung, ein weiterer Ausdruck der Art und Weise, wie sich in diesem Land mit der Geschichte auseinandergesetzt werden soll: monumental und sprachlos." Daran hat sich in den drei Jahren, die dieser Satz aus meinem ersten Artikel zu diesem Thema alt ist, nichts geändert. Daß die Debatte selbst in Monumentalität und Sprachlosigkeit enden würde, war damals, als sie politisch noch polarisierte, nicht unbedingt abzusehen - die aktuell stattfindende Versöhnung mit der Vergangenheit dagegen schon.

Am Ende wird die Frage, ob das Mahnmal gebaut wird oder nicht, politisch abgewogen. Diese Abwägung wird kein "zivilgesellschaftlicher Diskurs" um erinnerungsethische und ikonographische Fragen und Bedenken sein, sondern eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die wie jede dieser Relationen das gewünschte Ergebnis haben wird. Eine Entscheidung für den Bau könnte Kohl rechte Stimmen kosten, auf die er dringend angewiesen ist. Auch in der eigenen Partei ist das Mahnmal umstritten, und wie weit rechts die CDU nach dem Bundestagswahlkampf stehen wird, darüber mag ich nicht spekulieren. Zugleich würde eine positive Entscheidung aber auch das Image des Standortes Deutschland aufpolieren, das nach der erfolgreichen faschistischen Mobilisierung der letzten Monate zum ersten Mal seit dem Pogrom von Rostock 1992 Risse bekommen hat.

Um nicht mißverstanden zu werden: Das Mahnmal selbst und sein Inhalt sind dabei zweitrangig, es geht um die nationale Botschaft. Und die ist jetzt schon unmißverständlich - der Deckel ist zu. Insofern wäre jeder weitere Beitrag, und sei er noch so kritisch, eine Affirmation dieser Debatte, die sich von den Opfern, deren man zu gedenken vorgibt, tatsächlich emanzipiert hat.