Alternative Lebensformen

Kindertag

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Dienstag ist Kindertag. Das ist einer der Tage, an dem man nach zwei Stunden beginnt, sich die Eis-Finger am T-Shirt abzuwischen, und nach vieren Sprache wieder auf bloße Schallsignale reduziert hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Es war also wieder einmal Dienstag, und ich war mit Lene auf einem Kinderspielplatz in Kreuzberg. Männer fallen an solchen Orten leicht auf, und schon bald begann eine junge Frau eine Kreisbahn zu ziehen, von der ich ahnte, daß sie mich schneiden würde. Um der in der Geschlechterphysik Hohmannsche Cruising-Bahn genannten Kurve zu entkommen, hätte ich meine Tangentialgeschwindigkeit genauer berechnen müssen. Wir trafen uns in der Mitte des Sandkastens.

"Ich hab' Sie hier noch nie gesehen? Wie alt ist denn Ihr Kleiner?" KleineR? Ich musterte Lene. Wann hatte ich die Geburtsanzeige erhalten? Vor eineinhalb Jahren? Während ich versuchte, Rechenzeit zu gewinnen, korrigierte ich das Geschlecht: "KleinE! Ohne großes Außen-R." Obwohl die Frau so aussah wie Sie und ich, also ohne aufzufallen jedes Goldene Zitronen-Konzert hätte besuchen können, fand sie das nicht lustig. Offensichtlich ließ ich mir zu viel Zeit mit der Antwort, denn die Frau wurde mißtrauisch. Also sagte ich entschlossen: "Vierzehn Monate!" Das saß. Sie starrte auf den eigenen Balg: "Die ist ja schon ganz schön weit ..." Dann bückte sie sich zum Übersprung, grub eine Scherbe aus und hielt sie hoch: "Glas im Sandkasten! Die Menschen haben überhaupt keine Achtung mehr!" Als ich nicht antwortete, legte sie zu: "Das war doch früher nicht so, oder?" Mein "Doch, bestimmt" ließ sie nicht gelten, und entschlossen, sich der Katastrophe entgegenzustellen, setzte sie ihrem Sohn ein Sonnenkäppchen auf: "Alles ist schlimmer geworden. Sogar die Polkappen schmelzen ab ..." Ich begriff, daß ich dem ökologisch-moralischen Diskurs nicht ausweichen konnte, und gewiß, mit jenem Zauberwort jedes Gespräch in den Griff zu bekommen, warf ich ein: "Globalisierung! Das liegt vermutlich an der Globalisierung ..." Damit hatte ich das Problem eingekreist, denn nun wurde sie konkret: "Ich komme immer extra aus Neukölln hierher, wissen Sie ..." Ich wußte nicht, es wäre mir im Zusammenhang mit der Globalisierung auch nie eingefallen, verstand aber, daß es nun an mir war, meine Geschichte zu erzählen.

Es war schließlich Lene, die mich vor dem Zwang rettete, weitere soziale Leistungen auszutauschen. Sie hatte das Kind meiner Gesprächspartnerin umgeschubst, um so leichter an sein rotes Eimerchen zu kommen. Es schrie, die Mutter zerrte an Lene. Jetzt schrie Lene, und ich griff ein. Wir schieden in Unfrieden.

Am nächsten Dienstag werde ich mir einen anderen Spielplatz suchen. Vorsichtshalber aber werde ich Lenes Eltern nach dem Alter fragen.