»Ruhlose Nacht«

Giacomo Leopardi - der Dichter der Moderne wurde vor 200 Jahren in Recanati geboren.

Einige haben ihn für den Verfasser von Idyllen und von zarter Naturlyrik gehalten. Dann haben sie sich darüber beklagt, wie wenig zart, wie streng, ja schneidend er sein konnte; wie "unausgeglichen" (de Sanctis) er sich gegen die großen harmonischen Naturdichter ausnimmt. Der locus amoenus scheint alles andere zu sein als amoenus, eher schon vertrocknet, wüstenhaft, trostlos. Die Natur: der Alptraum eines Hagestolzes, die Idylle: ein Gallenstein.

Andere wollten in seinen "Canti" einen Schwanengesang erkennen, Zeugnis eines unheilbar kranken Schöngeistes. Dann fanden sie degoutant, wie unduldsam er gegenüber dem Elend seiner Existenz war, wie maßlos, ja blasphemisch er ihm Ausdruck zu verleihen schien. Karl Witte in den Blättern für literarische Unterhaltung (153/1837): "(Daß) das Unglück eine Prüfung, ja für Den, der es recht zu tragen weiß, eine Segnung Gottes sein könne, das ist nirgend ausgesprochen."

Wieder andere sahen in seinen Versen bloß die Spiegelung seiner pessimistischen Philosophie. Daraus schlossen die Linken - allen voran die italienischen Kommunisten -, er sei ein Reaktionär, weil ihm der Glaube an den Fortschritt fehle, der historische Optimismus; die Katholiken und Konservativen hingegen verurteilten seine Zweifelsucht, seine Gottlosigkeit, seine anarchistischen Anwandlungen.

Wie allen Dichtern ist es aber auch Giacomo Leopardi widerfahren, gelesen und nicht bloß interpretiert zu werden. - Selten während seines kurzen Lebens, das er zum größeren Teil unter der Tyrannis seines Vaters, des ebenso katholischen wie rationalistischen Pamphletisten Graf Monaldo Leopardi, zubringen mußte. Auch nicht, als die verschiedenen Lager noch darüber stritten, welchem er zuzuschlagen sei. Aber schon seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts haben einzelne seinen Verse Aufmerksamkeit geschenkt, Platen und Musset, Sainte-Beuve und Nietzsche, Walter Benjamin und Guiseppe Ungaretti. Und vieles deutet darauf hin, daß seine Zeit erst noch kommen wird.

So sehr seine abweisende, finstere Art ihm die Leser abspenstig gemacht hat, so unpassend kann das Urteil derer sein, die seine Bitterkeit nicht von vornherein für ungenießbar halten. Arthur Schopenhauer schreibt in einer vielzitierten Passage seiner "Welt als Wille und Vorstellung" (II, Kap. 46), "der Spott und Jammer dieser Existenz" sei überall Leopardis Thema, "auf jeder Seite seiner Werke stellt er ihn dar, jedoch in einer solchen Mannigfaltigkeit von Formen und Wendungen, mit solchem Reichtum an Bildern, daß er nie Überdruß erweckt, vielmehr durchweg unterhaltend und erregend wirkt". Das Merkwürdige an Leopardis Dichtungen aber ist gerade, daß man ihrer nicht überdrüssig wird, obwohl er stets von derselben Grundkonstellation, stets von denselben Orten, Tropen, Wendungen ausgeht. Es herrscht immer dieselbe Nacht über immer derselben Einöde, und über allem steht immer derselbe Mond.

Aber ist es wirklich immer derselbe Mond? In "La ricordanza" (Die Erinnerung, 1819), einem Gedicht, dessen Titel Leopardi für die zweite Edition der "Canti" (1831) in "Alla luna" (An den Mond) änderte, wird mit "O graziosa luna" (O anmutiger Mond) und "O mia diletta luna" (O mein geliebter Mond) ein alter Freund - oder vielmehr, da das Wort im Italienischen weiblich ist, eine Freundin - angerufen. Er (sie) ist der (die) einzige, dem (der) man alles Leid schildern kann, weil er (sie), unwandelbar, auch das frühere Leid stumm mitangeschaut hat, weil er (sie) es ertragen kann und es in seinem (ihrem) Gedächtnis bewahrt. Sein (ihr) Antlitz (volto) ist auch durch die Tränen hindurch noch zu erkennen, er (sie) ist gewissermaßen menschlicher als ein Mensch.

Ausgehend von diesen Versen entspinnt sich in den später entstehenden "Canti" ein Zwiegespräch, in welchem dem Mond die Rolle des - zunächst - bedeutungsvoll Schweigenden zugewiesen ist. Der Mond spricht nie, und dennoch handelt es sich um ein Gespräch. Denn ein Gespräch beruht doch lediglich auf der Annahme, der andere könnte antworten. Nicht, was der andere antwortet, entscheidet, sondern, welche Antwort ihm unterstellt wird.

Unterstellt wird dem Mond in dem zwei Jahre später entstandenen patriotischen Gedicht "Bruto minore" (Brutus der Jüngere) nicht mehr nur Gleichmut, sondern Grausamkeit. "E tu dal mar cui nostro sangue irriga, / Candida luna, sorgi (Ö)". Über dem Meer von Blut, das die Schlacht ausgegossen hat, steigt der reine (candida) Mond auf. Rein ist er, weil er nicht mit Blut befleckt wird, er erforscht (esplori) die "ruhlose Nacht", das schreckliche Geschehen. "Tu s" placida sei?" Und wenn du diese Schlächterei siehst, da kannst du so ruhig sein? Nicht mehr Freundin, kein Leidensgefährte mehr, ist der Mond zu einem Wissenschaftler geworden. Er ist derjenige, der alles sieht und dennoch nicht eingreift. Als solcher ist er zugleich Teil der intelligiblen Welt und der leblosen Natur.

Das Motiv wird im selben Jahr in "La vita solitaria" (Das einsame Leben) anders akzentuiert. Die vierte Strophe beginnt (in der Übertragung von Michael Engelhard): "O lieber Mond, dein stilles Strahlen läßt / Im Wald die Hasen tanzen; und am Morgen / Ist es der Jäger leid, der alle Fährten / Verworren findet und, von falscher Spur / Betrogen, in die Irre geht; o sei / Gegrüßt, du gütige Königin der Nächte." Wie in "Bruto minore" steht der Mond über nächtlichem Geschehen, aber er scheint auch einzugreifen: In seinem strahlenden Licht tanzen die Hasen, sein Leuchten entdeckt den Räuber, den Ehebrecher; aber auch "mir, ob ich gleich frei von Schuld gewesen, / Auch mir war einst dein schöner Schein zur Last, / In jenen vielbewohnten Städten, als / Du mich dem Blick der Menschen preisgegeben, / Als du ihr Bild vor meinem Blick enthüllt."

Der Mond zerreißt die Schleier der Nacht, sein weißer Strahl enthüllt das Verbrechen, die Häßlichkeit, aber auch das Trugbild der Geliebten. Der Mond ist das Erkennen selbst. "He is stronger in the reflective than in the perceptive", schrieb W.E. Gladstone über Leopardi, aber das ist nicht richtig: Nirgendwo fallen so sehr Denken und Wahrnehmen zusammen wie bei diesem Dichter. Das Wahrnehmen (das hier immer ein Für-wahr-Nehmen ist) wird als ein Enthüllen verstanden, ein Blick entweder ins Grauen oder in den Trug, wobei es Leopardi selten versäumt, die Schimäre, den schönen "errore" zu preisen als einzige Pille, die gegen die grausame Erkenntnis hilft. Der Erkenntnis kann ein Denkender am Ende aber doch nicht ausweichen.

Zwischen diesen frühen Gesängen, allesamt von dem gerade Zwanzigjährigen verfaßt, und den späten "Grabgedichten" liegen einige Jahre, in denen Leopardi das Dichten zurückstellte, um sich ganz seinem "Zibaldone" (wörtl. Sammelsurium) zu widmen, einer Systematisierung seiner Philosophie. Daß er ein Dichter war, erwies sich gerade darin: Er wollte nicht seinen Gedanken ein poetisches Mäntelchen überwerfen. Und als er zum Dichten zurückfand, zeigte sich, daß die Dichtung sich endgültig ihr Recht genommen hatte. Die patriotischen, die historischen, die bloß autobiographischen Momente entfallen. Er kehrt zurück zum Kern seiner Poesie. Es ist Nacht in der Wüste.

Der Mond, der über dieser entseelten Landschaft aufgeht, ist nun endgültig keine Freundin des Leidenden oder der anarchischen Hasen, sondern ein teilnahmsloser Trabant. Aber das Zwiegespräch setzt sich fort: "Was tust du, Mond, am Himmel? Sag mir, was du tust, / Stiller Mond. / Du steigst auf am Abend, und wandelst / Auf die Wüste blickend; dann ruhst du aus". Im "Canto notturno di un pastore errante dell'Asia" (Nachtgesang eines Wanderhirten Asiens, 1830) schaut der Mond zwar herab auf ein von Schmerzen gehetztes, armseliges Leben, dessen einziger Trost der frühe Tod ist, aber er hat damit endgültig nichts mehr zu tun. "Vergine luna, tale / é la vita mortale", keuscher Mond, solcherart ist das sterbliche Leben. Und sein Nicht-verstehen-Können liegt gerade hierin begründet: "Du aber bist nicht sterblich".

Damit erledigt sich die Hoffnung auf Antwort, damit endet das Zwiegespräch: Auch der Mond muß fremd bleiben. Das zwecklose Dahintreiben der Gestirne kann den Menschen, der zum Sterben verurteilt ist, nichts angehen. In Leopardis letztem Gedicht "Il tramonto della luna" (Monduntergang, 1836/37) vollendet sich dieser Gedanke. Es ist konzipiert als eine Gegenüberstellung von Landschaft, über der der Mond untergeht, und Lebensende. "Der Mond versinkt; und glanzlos liegt die Welt". So sei auch die Jugendzeit vergangen, samt ihren Hoffnungen. Milde wäre das Gesetz der Himmlischen, den Menschen ein Leben-zum-Tode zu bestimmen - wäre das Leben nicht schrecklicher als das Sterben. In der letzten Strophe wird eine neue

Parallele aufgebaut: Aber die Hügel und Hänge, die nun vollständig dunkel daliegen, sehen sie nicht bereits das Heraufdämmern des neuen Tages?

Der Leser, der Leopardi nicht kennt, könnte in die Irre geführt sein, er könnte nun, nach dem Schema des Gedichtes, die Analogie zum Leben der Menschen vermuten: Nach dem Tode folgt das Paradies oder wenigstens der Ruhm oder wenigstens die bessere Zukunft der Menschheit. Der Dichter aber diktierte - angeblich zwei Stunden vor seinem Tod - Antonio Ranieri, mit dem er die letzten Jahre in einer "Bruderschaft" verbracht hatte, diese Zeilen: "(Ö) ed alla notte / Che l'altre etadi oscura, / Segno poser gli Dei la sepoltura." In der Übertragung Helmut Endrulats: "(Und) für das Dunkel der Nacht / in das alle Zeiten entweichen, / schufen die ewigen Götter das Grab zum Zeichen."

Georges Güntert schrieb, mit diesen letzten Zeilen habe "Italiens Moderne" eingesetzt, Emanuele Severino sieht Leopardi gar als den Dichter der Moderne an. Das ist durchaus einsichtig, wenn man Leopardis Natur, seine Wüste und seinen Mond nicht als Idyllen- und Odenrequisiten liest. In einer Welt des Scheins verdoppeln sich auch die poetischen Chiffren: "Einem empfindlichen und phantasiebegabten Menschen, dessen Leben wie das meine durch Gefühl und poetisches Schaffen bestimmt wird, erscheinen die Welt und ihr Inhalt in gewissem Sinne doppelt. Seine Augen sehen einen Turm oder eine Fläche Landes, seine Ohren hören ein Glockenläuten; aber im gleichen Augenblick sieht er mit dem inneren Auge einen zweiten Turm, ein zweites Feld und vernimmt ein zweites Geläut", schreibt Leopardi im "Zibaldone".

Mond, Landschaft, Pflanzen usw. sind Teil der poetischen Welt der Antike und der Renaissance, die der Philologe Leopardi kannte wie kaum ein anderer. Zugleich figurieren sie als sich wandelnde Komplexe innerhalb einer gedanklichen Landschaft. Der Mond, dem man zunächst eine Antwort zutraut, der sich gewissermaßen herabneigt, und der dann erst das kalte Licht des Erkennens spendet, um schließlich zu einem Teil der unbegriffenen Natur, also des Nichts zu werden - das ist eine der Bewegungen, die sich durch die "Canti" ziehen, eine Bewegung hin zur Moderne.

Doch während der Mond sich mehr und mehr entfernt, um schließlich in "Il tramonto della luna" endgültig unterzugehen, wird es immer heller in Leopardis Welt, immer schärfer zeichnet er die ihn umgebende Welt. In seinem besten Gedicht "La ginestra o il fiore del deserto" (Der Ginster oder die Blume der Wüste, 1836) führt er in entschlackten Versen über die "dürren Halden des Vesuvs". Dann setzt er zum Sprung an: "Hier schau, hier spiegle dich, / Vermeßne, blöde Zeit! / Du hast den Weg verlassen, / Den uns das Denken, seit es neu erwacht, / Gewiesen, hast das Rad zurückgedreht / Und rühmst dich noch der Nacht / Und nennst das Dunkel Fortschritt." Und weiter: "Freiheit erträumst du und zugleich aufs neue / Verknechtest du die Klarheit, die einzig uns zum Teil / Der Nacht entrissen hat (Ö)" (Übertragung von Ludwig Wolde)

Diese Hymne auf das säkulare, wenn auch nicht das zeitgenössische Denken, die Klarheit des hoffnungslosen Erkennens, den Versuch, der ideologischen Verrohung zu entkommen, ist modern - sofern man unter Modernität nicht die technische Revolution versteht. Mit Leopardi beginnt und vollendet sich die Moderne als Epoche des Nihilismus. Mit dem Mond versinkt auch der Sinn.