Zaudern, zögern, zahlen

Ehemalige NS-Zwangsarbeiter reichen Klagen auf Entschädigungszahlungen gegen deutsche Konzerne ein

Ellie Gross war kaum 15 Jahre, als die Deutschen sie im April 1944 gemeinsam mit ihrer Familie aus Rumänien nach Auschwitz verschleppten. Mutter und Bruder wurden in dem Vernichtungslager ermordet. Ellie Gross wurde nach Niedersachsen gebracht, zur Zwangsarbeit beim Volkswagen-Konzern.

Ein Jahr lang mußte das junge Mädchen Autoteile lackieren, zwölf Stunden täglich Schwerstarbeit inmitten giftiger Farbdämpfe. Erst die alliierten Truppen machten ihrem Martyrium ein Ende. Heute lebt Ellie Gross in New York. Niemand könne ihr die tote Mutter und den toten Bruder zurückgeben, sagt die 69jährige. "Aber Volkswagen kann das wiedergutmachen, was sie mir angetan haben." Um 53 Jahre nach Kriegsende wenigstens ein bißchen Gerechtigkeit herzustellen, hat sie jetzt Klage auf Entschädigung gegen Volkswagen erhoben - gemeinsam mit anderen ehemaligen VW-Zwangsarbeitern.

Die Sammelklage, die Anwalt Mel Weiss am Montag vergangener Woche in New York eingereicht hat, ist nicht die einzige ihrer Art. So legte am selben Tag ein anderer US-amerikanischer Anwalt, Edward Fagan, eine weitere Sammelklage ehemaliger Zwangsarbeiter vor, die sich gegen mehrere deutsche Konzerne richtet. Nach den Schweizer Banken, den deutschen Versicherungskonzernen und den deutschen Banken rückt nun ein anderer Hauptprofiteur der NS-Kriegswirtschaft und der NS-Vernichtungspolitik ins Visier: die deutsche Industrie.

Im August 1944, auf dem Höhepunkt der deutschen Kriegswirtschaft, leisteten in Deutschland schätzungsweise rund 7,65 Millionen Menschen Zwangsarbeit. Aus ganz Europa waren sie deportiert worden. Darüber hinaus waren rund 600 000 KZ-Häftlinge in deutschen Betrieben eingesetzt, der Großteil von ihnen in der Landwirtschaft. Viele schufteten aber auch im Bergbau und in der Metallindustrie. Der Profit war enorm: Während einem deutschen Arbeiter ein Monatslohn von hundert Mark zustand, kostete ein Kriegsgefangener nur 76 Mark - zahlbar an die Wehrmacht. Die Zwangsarbeiter selbst erhielten davon nur einen Bruchteil, gestaffelt nach ihrer rassischen Einteilung: Für Belgier und Franzosen gab es 24 Mark, ein Russe erhielt gerade mal zwölf. Fast alle deutschen Industrieunternehmen bestellten sich Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge bei SS und Wehrmacht. Von ein paar vereinzelten Zahlungen abgesehen haben sie bis heute keine Wiedergutmachung geleistet.

Nun fordern die damaligen Opfer den erwirtschafteten Profit zurück. Fagans Klage und die weiterer Juristen aus sechs amerikanischen Anwaltskanzleien sind vor einem Distriktgericht im New Yorker Stadtteil Brooklyn anhängig. Auf der Anklagebank die guten Namen aus der deutschen Industrie: Siemens, die Friedrich Krupp AG Hoesch-Krupp, Diehl, Henkel, BMW, Daimler-Benz, VW, Audi, WMF, Leica und MAN.

Fagan, der auch für die Klage gegen die deutschen Versicherungskonzerne verantwortlich zeichnet, vertritt nach eigenen Angaben die Ansprüche von 16 Überlebenden des Holocaust aus mehreren US-Bundesstaaten sowie aus Kanada und Israel. Unter den Klägern befinden sich Russen, Polen, Ungarn, Rumänen, Tschechen, Slowaken und weitere Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Wie der Münchner Rechtsanwalt Michael Witti, der mit Fagan zusammenarbeitet, mitteilte, wollen sich noch Hunderte von weiteren Geschädigten anschließen. Außerdem erwägen jüdische Vereinigungen wie die World Jewish Restitution Organization weitere Prozesse.

Mit der jetzt eingebrachten Sammelklage wolle man keineswegs den entgangenen Lohn einfordern, betont Witti. Die Firmen sollten vielmehr den Profit, den sie durch die Beschäftigung von Zwangsarbeitern erwirtschaftet haben, herausgeben. Die genaue Höhe der Entschädigungszahlungen solle das Gericht festlegen. Man erwarte jedoch einen Betrag von mindestens 70 000 Dollar - rund 130 000 Mark - pro Zwangsarbeiter.

Auch Mel Weiss, der Anwalt von Ellie Gross, kündigte eine Ausweitung seiner Klage an, die sich derzeit nur gegen Volkswagen richtet. Er will insbesondere gegen Krupp, Telefunken, Siemens, Daimler-Benz, General Motors (als Mutterkonzern von Opel), BMW, Bosch, AEG, Bayer, BASF, Rheinmetall, Mannesmann, Hoechst, Heinkel, Henkel und Continental vorgehen. Ob Weiss Aussicht auf Erfolg hat, ist indes eher zweifelhaft. Erst im vergangenen März hatte ein US-amerikanisches Gericht die Klage eines Zwangsarbeiters gegen Daimler-Benz abgewiesen. Allerdings ist der Image-Verlust für die betroffenen Unternehmen, von denen viele einen Großteil ihrer Umsätze in den USA erwirtschaften, enorm.

Während sich die meisten Konzerne bislang nicht zu den Klagen äußern, haben sich einzelne bereits für eine Entschädigung ausgesprochen. VW plant die Einrichtung eines Fonds, der "humanitäre Hilfe" für die ehemaligen Zwangsarbeiter leisten soll. Am 11. September will der Aufsichtsrat des Wolfsburger Konzerns entscheiden, "in welcher Höhe und in welcher Breite" Entschädigungen gezahlt werden sollen. Daimler-Benz würde nach Angaben eines Firmensprechers eine Wiedergutmachung über öffentliche Institutionen vorziehen. Und BMW kündigte an, man sei bereit, sich an einem Fond zu beteiligen, wenn dieser auch von der Bundesregierung mitgetragen würde.

Das ist zumindest von der jetzigen Bonner Regierung kaum zu erwarten. Kohl hatte erst jüngst betont, die "Entschädigungskasse" des Bundes bleibe geschlossen. Der Rechtspolitische Sprecher der Bündnisgrünen, Volker Beck, kündigte dagegen diese Woche an, in einer rot-grünen Regierung wolle er "alle Beteiligten an einen Tisch holen". Zu einer gerechten Lösung kann es nach Meinung Becks nur durch Einrichtung einer Bundesstiftung für Entschädigung kommen.