Torte für alle

Die Nebenwirkungen der Anti-Fett-Pille kriegt jede Frau zu spüren.

Heute schon gesündigt? Zuckerstückchen in den Kaffee gerührt, Cola getrunken, Cheeseburger gegessen, die Morgengymnastik verschlafen und vielleicht sogar von einem köstlichen Vanilledessert geträumt? Schönen Gruß an ihre Fettzellen.

Nein, es nutzt gar nichts, wenn Sie den Bauch einziehen! Das kommt davon, wenn man Sahnebonbons lutscht, statt Öko-Möhren zu knabbern! Sie sind - und das wissen Sie selbst am besten - eine Null, eine Versagerin, denn Sie halten nicht mal eine einfache Diät durch, und den Bikini können Sie genauso vergessen wie die Aussicht auf eine Beförderung, wenn Sie nicht mehr für Ihren Body tun.

So ungefähr lauten die Botschaften der meisten Frauenzeitschriften, die unter dem Deckmantel von Lebenshilfe die Ideologie transportieren, daß es allerlei Anstrengungen und Kaufkraft bedarf, um zur perfekten Frau zu werden. Und seit Jane Fonda von der Anti-Vietnam-Demonstrantin zur fitnessgestählten Aerobic-Vorturnerin für Frauen ab 40 avanciert ist, gilt auch hierzulande, daß die Frau von Welt weder älter wird, noch Orangenhaut trägt.

Dabei ist es ganz gleich, mit welchen Mitteln, Turnübungen und Therapien dem eigenen Körper abverlangt wird, sich zu unterwerfen. Die Emanzen von heute sind glatthäutige, gutverdienende, elegante Mittelstandsdamen, die ihre "freien Radikalen" mit einer Hautcreme im Griff haben und den Fettpölsterchen mit Biothermen zu Leibe rükken. Aus der Ästhetik des Widerstands ist eine Ästhetik der Konkurrenz und des Körperkults geworden.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist nachvollziehbar, wieso die Panikmache von Gesundheitspolitikern und Krankenkassenökonomen auf solch fruchtbaren Boden fallen konnte. Die Gegenbilder fehlen. Hella von Sinnen, wo bist du geblieben? Wo sind die schönen dicken Frauen mit den atemberaubenden Dekolletés und den spitzen Zungen?

Zweifellos gibt es echte Fettsüchtige. Adiopositas, wie der medizinische Fachbegriff lautet, kann durch eine Stoffwechselstörung hervorgerufen werden, die zu recht dramatischer Gewichtszunahme mit ernsthaften Folgen führt. 130 oder 150 Kilo sind kein Pappenstiel für einen Körper. Das ganz normale Gewicht der meisten Frauen jedoch - das, was uns als Übergewicht suggeriert wird - hat damit nichts zu tun. Zehn Kilo über dem sogenannten Normalgewicht? Na und? Waren es vor hundert Jahren noch Hysterie und dauernde Ohnmachten, die von den potentiellen Patientinnen erwartet wurden, sind es heute Depressionen und Übergewicht, die fast jeder Arzt mit leichter Hand diagnostiziert. Wer wagt es noch, dazu zu stehen? Fit is beautiful, und wer nicht gertenschlank ist, ist nicht fit, und wer nicht fit ist, ist nicht glücklich und hat schon verloren.

Auch wer krank ist, hat heute selber schuld - einige wenige Ausnahmen von der Regel werden als individueller Schicksalsschlag geduldet. Dabei sind die Kapriolen der Medizingötter erstaunlich widersprüchlich. Einerseits werden wie nie zuvor genetische Anlagen für allerlei Gebrechen und Eigenschaften verantwortlich gemacht, andererseits die angeblich unbotmäßige Lebensführung als Krankheitsursache propagiert. Zigaretten und Buttercremetörtchen sind tabu, und wer sich mit der Krankenkasse gut vertragen will, tut gut daran, einen Sport zu betreiben und zweimal im Jahr zum Zahnarzt zu gehen. Auf dem Markt der Möglichkeiten gibt es nicht nur Arbeitsplätze, ein geregeltes Einkommen und Startzulagen für junge Unternehmer, sondern auch Schönheit, Gesundheit und Glück für alle, die es richtig machen.

Vorhang auf für die nächste angebliche Wunderdroge aus den pharmazeutischen Labors.

Der Countdown für die ab Ende des Monats auf dem bundesdeutschen Markt erhältliche neue Schlankheitsmedizin läuft, nachdem vergangene Woche ein vorsichtig-kritischer Artikel des Spiegel den Startschuß gab. Eine bessere Werbung kann sich kein Produkt wünschen, denn nun weiß nicht nur das Volk, sondern auch der ganz gewöhnliche Spiegel-Leser mehr, und zwar, daß es unglaublich vorwärts geht in Wissenschaft und Forschung, Abteilung Medizin und Pharmazie.

Xenical und Sibutramin heißen die neuen Lifestyle-Pillen, denen eine ebenso steile Karriere vorausgesagt wird wie der zeitgleich eingeführten Erektionshilfe Viagra. Die Anti-Fett-Medikation verspricht eine schnelle Gewichtsabnahme mithilfe organischer Chemie. Durch unterschiedliche Tricks sollen die neuen Pillen den Fettzellen, vor allem den "weiblichen" - an den Kragen gehen. Xenical blockiert den Transport von Fettmolekülen im Dünndarm, Sibutramin, das vorerst nur für den US-Markt zugelassen ist, wirkt appetitzügelnd auf Neurotransmitter im Gehirn. Besonders die Nebenwirkungen der letzteren - Bluthochdruck mit allen Begleiterscheinungen - gelten als gefährlich. Daß Frauen für den Schlankheitswahn mit dem Tod bezahlen, ist dabei nicht ganz neu.

Allerdings lassen sich die Langzeitfolgen der jetzt auf den Markt geworfenen Fettkiller kaum kalkulieren, und die Bereitschaft zum Risiko ist unter dem Druck gesellschaftlicher Anpassung deutlich gestiegen. So gelten z.B. Amphetamine und Schilddrüsenhormone als Geheimtip unter Schlankheitsfanatikerinnen. Die Pharmaindustrie darf also darauf bauen, daß sich viele Frauen ungeachtet der riskanten Nebeneffekte die neuen Pillen besorgen werden.

Zwar sind die Medikamente verschreibungspflichtig und teuer, aber dies wird den Markt kaum bremsen. Eine Milliarde Jahresumsatz will Xenical-Hersteller Hoffmann-LaRoche mit der neuen Wunderdroge erreichen. In ähnlicher Größenordnung kalkuliert die Konkurrenzfirma Knoll, eine BASF-Tochter, für den Sibutramin-Markt.

Solche Zahlen lassen die Krankenkassen natürlich zusammenzucken und die Ärzteverbände zurückschlagen. Aber auch die Debatte um die Kosten paßt hervorragend in die politische Landschaft. Liefern die sogenannten Lifestyle-Medikamente wie Fettkiller, Potenzhilfe, Anti-Glatzen-Pille doch Argumente, um das Gesundheitssystem zum Schnäppchen-Markt umzubauen.

So verstieg sich Günther Jonitz, Vizepräsident der Berliner Ärztekammer, Ende Juli zu derart verquasten Aussagen, daß man sich beinahe mit den Viagra-Käufern solidarisieren möchte: "Die Industrie, und damit der menschliche Einfallsreichtum, hilft überall da nach, wo entweder der natürliche Bauplan Mängel aufweist oder der menschliche Geist zu schwach ist, um selbst aktiv bestehende Mängel - durch Training, anderes Eßverhalten oder ein sinnlich-lustvolles Einfühlen dem Partner gegenüber - anzugehen. So ist er nun mal, der Mensch, faul, bequem und lustbetont bis in die Knochen."

Jonitz fordert vor dem Hintergrund der Debatte um die Kosten des Viagra-Marktes zum wiederholten Mal ein klassifiziertes Krankenkassensystem. "Warum sollte der Bürger sich nicht eine Krankenkasse nach Maß kaufen? Der eine möchte eine Art Teilkasko mit Eigenbeteiligung, die auf Kurse und Bachblütentherapie verzichtet, der andere möchte ein 'Rundum-Sorglos-Paket' mit Chefarztbehandlung und Einbettzimmer."

Es ist zu befürchten, daß - neben all den medizinischen Nebenwirkungen in den Körpern der Pillenkonsumenten - die neuen Schlankmacherdrogen im Verbund mit dem Run auf die Potenzpille derartigen Überlegungen Vorschub leisten.

Wir brauchen aber keine noch größeren Unterschiede in der Krankenversorgung für Arme und Reiche, sondern Torte für alle. Damit die kleinen Fettzellen an den Hüften immer ordentlich was zu futtern haben!