Propheten auf dem Tigerberg

Im Kaschmirkonflikt haben sich die muslimischen Söldner zurückgezogen. Aber nur aus taktischen Gründen

Am Ende gaben es die pakistanischen Militärs doch zu: Nicht nur muslimische Söldner hatten sich im indischen Teil Kaschmirs Gefechte mit der indischen Armee geliefert. Auch reguläre pakistanische Soldaten überschritten die Waffenstillstandslinie zwischen den beiden Staaten.

Armeechef Pervez Musharraf gestand dies am vergangenen Freitag erstmals öffentlich ein, hatte aber sogleich eine Begründung parat. Nur durch diesen Vorstoß habe Pakistan die Maßnahmen Indiens in der Bergregion von Srinaga über den Siachengletscher bis zu chinesischem Territorium beobachten können. Und eine solche Beobachtung sei wichtig gewesen, da man mit einer Aggression Indiens gerechnet habe.

Im Gebiet der Anfang Mai ausgebrochenen Kämpfe liegen auch der Jubarberg bei Batalik, den die muslimischen Söldner besetzten. Von ihm aus läßt sich jene Region kontrollieren, in der die indische Armee ihre Truppen über den Indus-Strom setzen muß, wenn sie in die Gebirgstäler von Nubra und Shyok gelangen will. Beide Täler gelten als Aufmarschgebiet der Inder für den Krieg auf dem Siachengletscher. Eine mögliche Aggression Indiens gegen Pakistan im Gletscherkrieg wäre durch die Aktion der Söldner also deutlich erschwert worden. Die Söldner haben somit genau das gemacht, was die indische Bevölkerung gefordert hatte, um die Söldner zu bekämpfen: die Nachschublinien des Gegners jenseits der Waffenstillstandslinie zu unterbrechen.

Denn schon im letzten Jahr bezeichneten Beobachter die Gefahr eines offenen Krieges zwischen Pakistan und Indien als sehr hoch. Die ständigen Scharmützel seit der Festlegung der Waffenstillstandslinie im Jahre 1949 nahmen an Intensität und Häufigkeit zu. Außerdem wurde die Verlängerung der vereinbarten Waffenstillstandslinie in Kaschmir über den Siachengletscher hinaus von indischer Seite als nicht bindend bezeichnet. Wiederholt kam es danach zu Schußwechseln, bis der Wintereinbruch die Auseinandersetzungen stoppte.

Die Gebirgsregion blieb einst bei der Festlegung der Waffenstillstandslinie ausgeklammert und bot beiden Seiten die Möglichkeit, einen symbolischen Sieg über den Gegner zu erlangen, ohne die UN-Vereinbarung zu verletzen und ohne Verluste in der Zivilbevölkerung in Kauf nehmen zu müssen.

International galt als Zeichen der Entspannung, daß der indische Regierungschef Atal Bihari Vajpayee vor rund vier Monaten auf Einladung seines pakistanischen Amtskollegen Nawaz Sharif eine Buslinie über die Grenze von Delhi nach Lahore eröffnete. Auffällig war aber, daß sich die pakistanischen Militärs am Empfang des Busses in Lahore - wo sich Sharif und Vajpayee sogar öffentlich umarmten - trotz vorheriger Aufforderung nicht beteiligten. Sie trafen sich lediglich hinterher außerhalb der Stadt in einem Landhaus mit der indischen Delegation.

In Pakistan gibt es seit der Unabhängigkeit 1947 Machtkämpfe zwischen zivilen Kräften und dem Militär. Mit den Atombombentests im vergangenen Jahr hat das Militär wieder deutlich an Stärke gewonnen. Nachdem Sharif den Generalstabschef der Armee entließ und über mehrere dienstältere Generäle hinweg mit Musharraf einen seiner Gefolgsleute zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte erklärte, gab es starke Spannungen.

Kurz vor dem Versuch, Mitte Juni die Kämpfe um Kargil diplomatisch zu lösen - die beiden Außenminister trafen in Delhi zusammen -, funkte beispielsweise das pakistanische Militär dazwischen: Die offizielle Übergabe von sechs verstümmelten Leichen indischer Soldaten rief in Indien eine derart ablehnende und feindliche Stimmung hervor, daß man das Treffen ohne jegliche Einigung beendete. Durchaus möglich, daß die offiziell nicht an den Kämpfen beteiligten Militärs den Termin bewußt wählten und die Leichen selbst übergaben, um zu zeigen, daß es ohne sie keine Lösung gibt.

Und kaum hatte Ministerpräsident Sharif am 4.Juli in Washington die Bereitschaft zum Rückzug betont, war es um Kargil zu den heftigsten Gefechten seit Beginn des Krieges gekommen. Es kamen Zweifel auf, ob der pakistanische Premierminister überhaupt genug Einfluß habe, die Söldner zum Rückzug zu bewegen. Schließlich ist nicht einmal sicher, ob Sharif Befehlsgewalt über die pakistanische Armee hat.

Mittlerweile sind die kriegerischen Auseinandersetzungen offenbar zu Ende. Am Sonntag bestätigte auch die indische Seite, die Söldner befänden sich auf dem Rückzug. Sharifs Zusammenkunft mit dem Vereinigten Rat des Heiligen Krieges, dem Entscheidungsgremium der eingedrungenen Söldnergruppen, hatte damit wohl wenig zu tun. Nachdem es schon in der vorvergangenen Woche dem indischen Militär gelungen war, den strategisch besonders wichtigen Tigerberg zurückzuerobern, scheint Indien in der vergangenen Woche die Söldnerlager in Dras und Batalik aufgespürt zu haben. Das Eingehen auf die Rückzugsbitte Sharifs war insofern eher ein taktischer Zug: So blieb den muslimischen Söldnergruppen eine Niederlage an der ganzen Front erspart, und das pakistanische Militär konnte das Ausmaß seiner Beteiligung größtenteils verbergen. Auch daß die Armeespitzen Indiens und Pakistans erst eine Woche nach der Ankündigung Sharifs konferierten, dann aber den Beginn des Abzuges noch für den gleichen Tag vereinbarten, spricht eher für eine Niederlage der Söldner als für die Autorität Sharifs.

Am Ende des Krieges ist die indische BJP-Regierung klare Siegerin. Im September sind in Indien Neuwahlen; die BJP, die nach ihrem Regierungsantritt im März letzten Jahres mit Mittelstreckenraketen- und Atombombentests das schlechte Klima zwischen den beiden Staaten ausgelöst hatte, wird wohl aus dem Sieg über die muslimischen Söldner um Kargil großen Vorteil ziehen. Erstens ist es Indien gelungen, den Gegner militärisch zu schwächen, so daß dieser einem Rückzug zustimmte. Zweitens war Indien auf der diplomatischen Ebene erfolgreich - wozu entscheidend beigetragen hat, daß die indischen Truppen nicht die Waffenstillstandslinie überschritten. Die mächtigen Verbündeten des ansonsten wesentlich schwächeren Pakistan stützten die indische Position: Die USA stellten sich hinter die Rückzugsforderung, China blieb neutral.

Schließlich haben beide Staaten selbst Probleme mit jenen muslimischen Söldnergruppen, die Pakistan nun im Kaschmirkonflikt benutzte. Auch die chinesische Armee hat auf dem eigenen Territorium im Westen des Landes mit denselben Söldnern zu kämpfen. US-Präsident William Clinton kann wohl kaum Anfang Juli Wirtschaftssanktionen gegen Afghanistan verhängen, da dieses "Terroristenausbildungslager" Ussama bin Laden beherbergt - und gleichzeitig das Verhalten der pakistanischen Militärs tolerieren. Denn die bilden die von den USA zur großen Gefahr erklärten "Terroristen" nicht nur aus, sondern benutzen sie im Kaschmirkonflikt als Söldner.