Warten und beraten

Nach dem Todesurteil gegen Öcalan übt sich die PKK in Politikberatung

Die vielfach prognostizierte Entwicklung, das moderate, in vielen Augen opportunistische oder verräterische Auftreten Abdullah Öcalans vor Gericht werde zu einer Demoralisierung der PKK-Anhängerschaft führen, ist bislang ausgeblieben.

Weder zeichnet sich eine Untergangsstimmung - wie es die türkische Presse erwartete - ab, noch ist eine Hinwendung zum Klassenkampf abzusehen (dies war die Spekulation von Teilen der türkischen Linken). Der PKK-Führung und den ihr nahestehenden Organen ist es weitgehend gelungen, der Verunsicherung der eigenen Basis entgegenzusteuern und die richtigen Interpretationshilfen für Öcalans Auftreten zu liefern.

In seiner jüngsten Erklärung forderte der Präsidialrat der PKK den türkischen Staat erneut dazu auf, "gesunden Menschenverstand und die Bereitschaft zu einer Lösung zu zeigen". Andernfalls drohe ein "Jahrhundert des Krieges". Auch die PKK-Basis steht hinter dem Friedensangebot und der uneingeschränkten Solidaritätsbekundung der Parteiführung mit Öcalan - und harrt der Dinge, die kommen.

Diese Entwicklung mag verwundern, ist jedoch wegen der inneren und äußeren Bedingungen verständlich. Öcalan war nicht nur der höchste Funktionsträger der PKK, sondern galt als "nationale Führung", als Personifizierung der kurdischen Bevölkerung. Eine Distanzierung der PKK-Führung nach seiner Entführung wäre nur um den Preis der Selbstaufgabe möglich gewesen.

So mußte die Partei, auch wenn sicher nicht alle Kader davon begeistert waren, den Tagesbefehl Frieden ausgeben. Und innerhalb der Führung scheinen sich der politische und der militärische Flügel auf ein einheitliches Agieren verständigt zu haben - wohl wissend, daß zu diesem kritischen Zeitpunkt interne Kämpfe zur Implosion der Bewegung geführt hätten.

Die Demütigung des PKK-Chefs in der türkischen Öffentlichkeit hat bei der Anhängerschaft der PKK, anstatt zu demoralisieren, die entgegengesetzte Wirkung provoziert. Öcalans Auftreten stellt zwar im Tonfall, nicht aber dem Inhalt nach eine wesentliche Wendung dar. Spätestens mit dem Waffenstillstand von 1995 hatte sich die PKK von der Forderung nach Eigenstaatlichkeit ebenso verabschiedet wie von sozialistischer Rhetorik.

Die PKK schätzt zur Zeit die militärische und strategische Lage als ein "festgefahrenes Kräfteverhältnis" ein, das nur politisch gelöst werden kann. Zutreffender ist wohl, daß sie in den letzten Jahren bedeutende Rückschläge hinnehmen und ihre Aktivitäten auf die politisch-diplomatische Ebene verlagern mußte.

So kommentiert die prokurdische Tageszeitung Özgür Politika: "Es ist sehr aufschlußreich, daß sowohl der Staat, viele Linke und der primitive Nationalismus eine Leidenschaft für tote Helden hegen und daher übereinstimmend von einer Kapitulation Öcalans sprechen. Revolutionär sein aber heißt nicht, zu sterben und zum Helden zu werden, sondern den Status quo zu verändern." Eine Veränderung des Status quo jedoch ist - wenn überhaupt - nur in Richtung der von Öcalan skizzierten "demokratischen Republik" möglich.

Öcalans Auftreten ist aus den Erfahrungen der letzten Jahren zu verstehen. Nachdem auch seine letzte diplomatische Offensive scheiterte und Europa die erhoffte Hilfestellung unterließ, blieb dem PKK-Chef kaum etwas anderes übrig, als sich direkt an die staatlichen Entscheidungsträger - das Militär - zu wenden.

Auch nach der Urteilsverkündung übt sich der Staatsfeind Nummer eins in Politikberatung. In einem Brief an die "Verantwortlichen im Staate" versucht er seinen Vorschlag zur Gewährung "demokratischer und kultureller Rechte" der Gegenseite schmackhaft zu machen. Der türkische Staat habe dadurch nichts zu verlieren, versichert Öcalan, könne aber die Kurden als strategische Verbündete gewinnen und sich von der Last der Kriegskosten und der Wirtschaftskrise befreien.

Die in der politischen Klasse beliebte Großmachtphantasie, die Türkei könne zur führenden Kraft auf dem Balkan, im Kaukasus und im Nahen Osten avancieren, stellt Öcalan genauso in Aussicht wie den Anschluß an Europa. Voraussetzung sei jedoch, daß es dem Staat gelinge, eine "geeignete Methode" zu finden, den bewaffneten Konflikt zu beenden, und dabei ihm, Öcalan, seine Rolle zuzuweisen.

Die PKK verfolgt indes eine Doppelstrategie: Nach dem Urteil wurde in den offiziellen Erklärungen das Friedensangebot aufrechterhalten, zugleich kam es zu kontrollierten Selbstmordattentaten und Bombenanschlägen. So sollte das nach wie vor vorhandene Drohpotential bekräftigt und die eigene Verhandlungsposition gestärkt werden.

Vergangene Woche verkündete das Kommando der Volksbefreiungsarmee Kurdistans, diese Aktionen "bis auf weitere Befehle" einzustellen. Die Anschläge, heißt es in der Erklärung, "haben die gewollte Botschaft vermittelt." So schwankt die PKK zwischen Friedensangebot und Eskalationsdrohung und wartet auf die Schritte der Gegenseite.

Denn noch ist die endgültige Entscheidung der türkischen Seite nicht gefallen. Das PKK-Präsidiumsmitglied Duran Kalkan erklärte jüngst gegenüber Özgür Poltika, das Todesurteil sei zu erwarten gewesen. Die endgültige Entscheidung aber werde, so Kalkan unter Berufung auf Staatspräsident Süleyman Demirel, keine juristische, sondern eine politische sein.

Zugleich rief Kalkan die Türkei dazu auf, die Entscheidungsfindung zu beschleunigen. Denn die PKK wird noch eine Weile abwarten und das Spiel von Drohung und Angebot fortsetzen. Wenn aber entscheidende Schritte der Gegenseite ausbleiben, wird sie mit ihrer Drohung, den Krieg in die Städte zu verlagern, ernst machen müssen.

Auch die Gegenseite zeigt sich widersprüchlich. Während auf den Titelseiten der Massenblätter das Todesurteil gefeiert wurde, begann in den Kommentarspalten eine Diskussion, ob das Urteil tatsächlich vollstreckt werden oder ob die Türkei aus nationalem Interesse lieber auf eine Hinrichtung verzichten solle.

Während die meisten Kommentatoren sich für einen Verzicht aussprachen, ließen Vertreter aller Parteien keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie, falls das Urteil ins Parlament eingebracht werden sollte, der Hinrichtung zustimmen würden. Auch Kreise des Militärs haben sich in die Debatte eingeschaltet und für eine Hinrichtung plädiert.

Kalkan wertete bereits diese Diskussion als einen Erfolg für die PKK. Erstmalig sei in der Türkei die PKK und die kurdische Frage im Rahmen der allgemeinen Fragen des Landes diskutiert worden. "Die Anzeichen verstärken sich", so die verhalten optimistische Einschätzung Kalkans, "daß eine positive Entwicklung möglich sein könnte." So habe es nach der Urteilsverkündung keine nennenswerten militärischen Operationen der türkischen Armee gegeben, die Meldungen über neue Offensiven seien nur eine Propagandaschlacht gewesen.

Auch die vergangene Woche erfolgte Freilassung der seit mehreren Monaten inhaftierten Führungsriege der Hadep könnte so interpretiert werden. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, erklärte der Parteivorsitzende Murat Bozlak: "Zwischen dem Tag unserer Verhaftung und dem Tag unserer Freilassung hat sich juristisch nichts verändert. Unsere Verhaftung war ebenso einer politischen Entscheidung geschuldet wie unsere Freilassung." Bozlak wertete die Entlassung als positives Signal, eine grundlegende Veränderung der Situation vermochte er aber noch nicht zu erkennen.