55. Fußnote zu Kapitel eins (1)

Fortgesetzte Erzählung

Am elften Dezember 1539 erklomm Philipp der Großmütige das Aussichtsturmzimmer seines Geschlosses in Kassel, um dort mal kurz ein kleines bisserl die historische Lage in Augenschein zu nehmen.

Sie war erfreulich (2). Abgeschlagen lagen im tiefsten Süden Franz von Sickingen und Götz von Berlichingen, denen er Darm- und Groß-Umstadt wieder entsteißt hatte, darüber stapelten sich, in Höhe der Wetterau etwa, die ausgetriebenen Flausen der hessischen Ritterschaft.

Ein kümmerlicher Rest der landstörzerischen Bauern, die seine geistlichen Territorien Fulda und Hersfeld veruriniert hatten, kühlte sich derweil die abgehackten Gliedmaßen in den munter plätschernden Fluten von Fulda, Haune, Werra und fränkischer Saale, denn es war üblich, aufmüpfigen Hintersaßen Hände oder Füße abzuhacken. Einfach totmachen, daß war keine Strafe!

Erfreulich auch seine administrativen Leistungen, aus denen ein halbes Dutzend geistige Schnupperintendenten hervorragten, ferner ein Schwiegervater, der als Herzog von Sachsen seine Brötchen verdiente. Dann die große Ziegenhainer Zuchtordnung von 1539, durch die wieder Sitte, Moral und Anstand in die Betten eingekehrt waren (3).

Sogar den 1354 erstmals bezeugten hessischen Landschrei, der in Nassau, Darmstadt und Kassel unterschiedlich tönte, hatte er vereinheitlicht.

"Soviel Geschichte", sagte der Großmütige zum Großmütigen (4), "und was hab' ich davon? Nix wie Ärger. Der Kaiser (5) will mich entlassen, weil ich in meinem Land die Reformation eingeführt habe, obwohl ich seinem Bruder (6) vor Wien gegen die Türken geholfen habe, Luther (7) ist sauer, weil ich mich nicht zwischen ihm und Zwingli (8) entscheiden kann, die Marburger Studenten schmähen mich schon auf allen Gassen (9), nennen mich einen Cocksucker, und wegen der leidigen Abendmahlsfrage bin ich auf dem Augsburger Reichstag mit knapper Not der Verhaftung entgangen."

Der Landgraf von Hessen seufzte, betrachtete jedoch weiterhin diese ausgedienten Erscheinungen (10). Sie alle nämlich drohten, über ihm zusammenzuschlagen wie eine Sturmflut und das alles wegen einer Frau, die zwar nicht Monika (11) hieß, aber die gleiche Funktion hatte und zwar für ihn (12) wie für seine Gegner (13). Ich wiederhole und zitiere:

Der Großmütige seufzte, "so daß zu erwägen ist, ob er nicht schon damals einen verzweifelten Ausweg aus seiner qualvoll empfundenen Lage gesucht hat, in die ihn seine unbefriedigende Lage geführt hatte. Dieser schließlich unerträglichen gewordenen Spannung zwischen hochgradig sexueller Not, die auf einer geschlechtlichen Anomalie beruhte (Triorchie) (14)" etcetc. (15) ...

Gegen Mittag faßte der Landgraf einen Entschluß. Er rief seine Berater ins Aussichtsturmzimmer (16). "Ich will wieder heiraten." - "Wozu das, Majestät?" - "Ich bin sexuell unersättlich. Ich habe drei Eier." - "Dazu braucht Ihr nicht zu heiraten." - "Ich muß." - "Warum?" - "Als Führer der protestantischen Partei kann ich keinen Ehebruch begehen." - "Aber Ihr seid schon verheiratet und als Führer der protestantischen Partei könnt Ihr Euch unmöglich scheiden lassen." - "Außerdem kriegt Ihr Ärger mit dem Herzog von Sachsen. Der reißt sich die Grafschaft Katzenelnbogen unter den Nagel, wenn Ihr seine Schwester sitzen laßt."

Nun seufzten alle. Der Graf von Ziegenhain hatte eine Idee: "Man könnte Luther auffordern, einer Nebenehe zuzustimmen." Gesagt, getan. Luther übersetzt auf der Wartburg gerade die 65. Sure (17), reißt sich aber los und bestätigt unter Berufung auf alttestamentarische Zitate die Legitimität einer Zweitehe in libidinösen Notfällen, wofür Philipp ihm ein paar entlaufene Nonnen verspricht. Nur Melanchthon tobt: "Abendland! Sittenverfall!!", wird aber mit der Neuordnung des Lateinschulwesens beauftragt und erhält den Posten des "Präzeptor Germaniae".

Zum Mittagessen kommt Christine mit den vier Söhnen, die alle irgendwie Wilhelm heißen. "Diese Schlampe!" kreischt sie. Philipp dagegen, großmütig: "Wenn du in die Nebenehe einwilligst, verfüge ich, daß unsere Söhne meine einzigen Erben werden. Jeder kriegt ein Viertel und der Große die Hälfte."

Christine gibt groß bei.

Am Abend kommt Margarete und man beginnt sofort damit, noch mehr Kinder zu kriegen (18). Welch ein Tag, was ein Glück, und welch eine Enttäuschung! Der Großmütige nämlich sollte nämlich sich nicht länger erfreuen seiner Potenz. Schon bald läßt Karl V. ihn durch den Herzog von Alba in Halle verhaften wegen Bigamie, Sittenlosigkeit und Reformation, und hält ihn fast fünf Jahre lang gefangen.

Als Philipp freikommt, ist er "ein gebrochener Mann", und auch für Hessen waren seine drei Hoden kein Segen (19). Dank seiner zahlreichen Nachkommen ist das Land bis heute zerrissen, denn natürlich hielt der Herrscher sein Versprechen nicht und vermachte auch den Wechselbälgern seiner Kebse ein paar Grafschaften.

Soviel zum Thema Amtsenthebungsverfahren und soviel sollten Sie wissen über Hessen (20), wenn Sie das nächste Mal Kassel rechts oder links liegen lassen.

(Nächste Woche: "Waldstück")

(1) Die Geschichte mit den drei Hoden des Großmütigen.

(2) Bis hierhin ähnelt der Text den ersten Zeilen des Romans "Die blauen Blumen" von Raymond Queneau in der Übersetzung von Eugen Helmlé.

(3) Aus der Feder des großen Reformators M. Butzer.

(4) Bei Queneau lautet die entsprechende Passage in der Fassung von Helmlé: "Soviel Geschichte, sagte der Herzog von Auge zum Herzog von Auge ..."

(5) Karl V. von Habsburg.

(6) Ferdinand I., König von Böhmen und Ungarn, 1531 römischer König, Nachfolger Karls V., als der 1556 ins Kloster ging.

(7) Reformator, Philipps Kumpel, Fürstenknecht, Psychosomatiker.

(8) Huldrych, Kumpel Philipps, schweizerischer Feldgeistlicher, Monumentalstatue in Zürich. Weitere Großtaten: Verbot des Orgelspiels und Gemeindegesangs in Gotteshäusern, Abschaffung aller Klöster.

(9) Die Marburger Studentenbewegung von 1539 richtete sich - die Uni war eben erst gegründet worden - gegen den sittenlosen Lebensstil des Landesherrn. Was schließen wir daraus? Studentische Revolten entstehen gleichzeitig mit den Unis, und man sollte sie nicht ernst nehmen.

(10) Queneau / Helmlé: "Der Herzog von Auge seufzte, betrachtete jedoch weiterhin aufmerksam diese ausgedienten Erscheinungen."

(11) Lewinsky.

(12) Philipp zeugte mit Margarete von der Saale sieben Kinder, die nicht alle alt wurden. Demandt (a.a.O. S.237): "Selten ist die Frucht einer solchen Verbindung schneller und schlimmer verkommen." Warum das? Er litt auch unter Syphilis, die jedoch erblich war. Schon sein Vater, Landgraf Wilhelm II., litt unter einem "schweren, syphilitisch bedingten Siechtum, ja Geistesgestörtheit" (Demandt, a.a.O. S. 222) und verstarb daran 1509, als der kleine Philipp eben mal fünf Jahre alt war, obwohl man in der erzbischöflichen Residenz Mainz bereits 1498 einen Apotheker namens Thomas als offiziellen Fürsorger für die von der "Franzosenkrankheit" Befallenen eingesetzt hatte.

(14) Auf Deutsch: Dreieinigkeit.

(15) Demandt unterstellt auch "eine immer stärker anwachsende seelische Verzweiflung, die sich bis zu jahrelanger Abendsmahlsverweigerung wegen Unwürdigkeit und unsittlichen Lebenswandels steigerte" (a.a.O. S. 231), aber hier folgte der Großmütige vermutlich eher seinem Freund Zwingli, der den eucharistischen Quatsch auf maximal vier Mahlzeiten pro Jahr beschränken wollte.

(16) Alle wichtigen Beamtenposten waren seinerzeit in der Hand von nur 26 akademisch gebildeten, also nicht adligen Familien.

(17) Offenbart zu Medina: "(1) Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. (2) O Prophet, wenn Ihr Euere Ehe scheidet, scheidet Euch zu ihrer bestimmten Zeit ..."

(18) Demandt, a.a.O. S. 231: "Es war ein politisch unbegreifliches, moralisch untragbares und menschlich nur schwer zu rechtfertigendes Verhalten, das ihn ins Verderben gestürzt hat."

(19) Demandt, a.a.O.: "Diese Niederlage des Landgrafen hat Hessen politisch nie wieder überwunden."

(20) Hofacker fiel bereits 1297 an die Landgrafen. Im übrigen verdankt der Großmütige seinen Namen auch den Hugenotten von Lamerden; vgl. Kapitel 16.