Zeit für verrückte Sachen

Die Suche nach einer neuen Architektur für das Weltfinanzsystem

Die Angst vor einer neuen Weltwirtschaftskrise geht um. Auch Deutschland könnte bald davon betroffen sein. Medien wie die Welt erinnern wieder einmal an die Weltwirtschaftskrise von 1929. Während bei der Bundesbank oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über solche Vergleiche eher gewitzelt wird, geben andere den Glauben an einen völlig deregulierten Kapitalismus auf. Seit einigen Wochen wird in den Büros von Notenbankern und Regierungschefs an neuen Konzepten für die globalen Finanzmärkte und internationalen Institutionen wie Währungsfonds und Weltbank gearbeitet.

Einer der weitreichendsten Vorschläge kommt von Oskar Lafontaine, der bald als deutscher Finanzminister mit umfangreichen Kompetenzen eine wichtige Rolle als "Dompteur der Finanzmärkte" spielen will: Er schlägt vor, das 1971 zusammengebrochene Weltwährungssystem von Bretton Woods wiederzubeleben. Dollar, Yen und Euro sollen zukünftig in einer festen Wertrelation zueinander gehalten werden - mit flexiblen Schwankungsbreiten von zehn bis 15 Prozent.

Unterstützt wird Lafontaine dabei von Frankreich, dessen Staatspräsident Jacques Chirac eine europäische Initiative für eine stärker regulierte Weltwirtschaft organisieren will. Großbritannien und Italien haben Unterstützung zugesagt. Für die meisten Notenbanken ist ein derartiger Vorschlag ein Frontalangriff. Riesige Summen an Euros müßten im Krisenfall ausgegeben werden, um etwa den Yen vor dem Wertverfall zu retten. Mit dem geldpolitischen Fetisch einer geringen Inflationsrate in Europa ist das schwer vereinbar.

Auf der Jahrestagung von IWF und Weltbank Anfang Oktober fiel dieser Vorschlag zunächst einmal durch - obwohl auch eine hochrangige IWF-Kommission 1994 ein "neues Bretton Woods" empfohlen hat: Die Nationalstaaten sollten ein formales System zur Koordinierung ihrer Wirtschaftspolitik vereinbaren, etwa analog zum Europäischen Währungssystem. Das Gutachten empfahl feste Währungsrelationen, um unnötige Wachstumseinbußen zu vermeiden - die Oberaufsicht sollte ein reformierter IWF ausüben.

Das Mißtrauen gegen den Fonds ist derzeit jedoch groß: Die Republikaner im US-Kongreß beispielsweise haben die Freigabe des US-amerikanischen Beitrags zur Quotenerhöhung des IWF - 18 Milliarden Dollar - an Bedingungen geknüpft: Kredite sollen nur noch zu Marktzinsen mit entsprechenden Risikoaufschlägen vergeben und spätestens nach zweieinhalb Jahren zurückgezahlt werden. Auch sie seien an weitere Auflagen zu koppeln, etwa an das Verbot von verbilligten Regierungskrediten an die Privatwirtschaft. Über die Entscheidungen seines Direktoriums und über interne Papiere muß der IWF womöglich bald einem externen Kontrollgremium berichten, mit dessen Bildung der US-Finanzminister James Rubin beauftragt wurde.

Mit der Einigung zwischen den Unterhändlern von Präsident Clinton und den Republikanern erhält der IWF Zugriff auf die schon länger beschlossene Quotenerhöhung von 90 Milliarden Dollar. Allein für die Nothilfe bei der Asien- und Rußlandkrise wurden bisher schätzungsweise 40 Milliarden ausgegeben.

Bei der Frage, wem dieses Geld zugute kam, gerät sogar der deutsche Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer in Aufregung: Es könne doch nicht sein, "daß Banken und andere Finanziers in guten Zeiten Gewinne machen, sich im Falle einer Krise aber der Verantwortung entziehen". Schließlich führe die offenkundige Bereitschaft zu gewaltigen Rettungsaktionen zu einem "moral hazard" und einem unterentwickeltem Risikobewußtsein bei den Finanzjongleuren. IWF und Weltbank sollten ihr Geld künftig zurückhaltender ausgeben - das war eines der wenigen Ergebnissse auf der Jahrestagung. Die Idee von George Soros, eine Weltversicherungsagentur für Kredite einzurichten, blieb zunächst unbeachtet.

Soros, der durch risikoreiche Spekulationen an den weltweiten Börsen und Devisenmärkten zum reichen Mann geworden ist, hat sich zu einem vehementen Systemkritiker entwickelt. Immer wieder wird er - zum Teil mit kaum verhohlenem antisemitischen Unterton - persönlich für abstürzende Währungskurse und die Zahlungsunfähigkeit von Regierungen verantwortlich gemacht.

Doch die neoliberale These, daß ein völlig ungezügelter und sekundenschneller Zu- oder Abfluß von Kapital automatisch zu dessen produktivsten Verwendung führt, bezweifeln inzwischen auch konservative Ökonomen. Paul Krugman vom Bostoner MIT beispielsweise findet, daß es an der Zeit sei, "verrückte Sachen" zu sagen. Man müsse endlich einsehen, daß die gängige (neoliberale) Theorie zu Fehleinschätzungen führe, wenn es sich um die Probleme von Entwicklungs- oder Schwellenländern handele. Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs seien unter Umständen das Beste, was ein Land tun könne, um sich vor einer völligen Finanzkatastrophe zu schützen.

Und während Hans Tietmeyer noch vor einem neuen Protektionismus der asiatischen Staaten warnt - Malaysia hat Anfang September Kapitalverkehrskontrollen eingeführt -, planen IWF und Weltbank schon anders: In Notsituationen und nach Genehmigung durch den IWF sei es möglicherweise sinnvoll, kurzfristige Schulden einfach abzuschreiben und ein Land teilweise gegen Spekulationsattacken abzuschotten. Für derartiges Umdenken wirbt auch US-Präsident Clinton, der versucht, der Leithammel auf der Suche nach einer neuen Weltfinanzordnung zu werden. Der globale Kapitalstrom brauche ein neues Management, damit alle Länder und "die einfachen Leute" in einer sicheren und nachhaltigen Art profitierten.

Dazu gehörten beispielsweise tragfähige soziale Sicherungssysteme. Nur so seien auch die Auflagen des IWF zumutbar. Tatsächlich lindern die IWF-Programme "zwar den Verlust des Vertrauens der Geldgeber in die Zahlungsmoral der geretteten" Staaten, allerdings regelmäßig nur im Austausch gegen eine Rezession im betroffenen Land. Unterstützung bekommt Clinton von Tony Blair aus Großbritannien. Auch Blair befürwortet eine Reform des IWF - spätestens im nächsten Sommer sollen aus den zahlreichen Vorschlägen fertige Konzepte werden, die dann auf der nächsten Jahrestagung von IWF und Weltbank beschlossen werden könnten.

In Blairs Aktionsplan findet sich sogar etwas, das Tietmeyer befürworten kann. Die 182 IWF-Mitgliedsstaaten und auch private Investmentbanken sollen zukünftig zur Offenlegung ihrer Verbindlichkeiten verpflichtet sein und die Baseler Prinzipien zur Bankenaufsicht umsetzen. "Das macht der Alte", freut sich Tietmeyer auf seine Beschäftigung für die Rentenzeit ab kommenden Sommer: Er hat den Auftrag bekommen, eine Koordination der weltweit getrennt arbeitenden Aufsichten für Banken, Versicherungen und Wertpapierhäuser zu organisieren.

Etwas verwirrt von der neuen Diskussionswut sind die Experten im Dienst des Bundesfinanzministeriums. Eigentlich sehen die Bonner Finanzbeamten keinen Anlaß, von der 16 Jahre lang üblichen "Markt-total-Strategie" abzuweichen. Aber daß der neue Chef etwas dagegen haben wird, das haben sie schon geahnt.