Öcalan in Haft

Falle oder Coup?

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Entgegen dem Triumph der türkischen Seite über eine definitive Niederlage der PKK durch die geglückte Verhaftung ihres Führers läßt sich durchaus auch ein Szenario entwerfen, in dem für die kurdische Seite mehr Platz als Akteur im Geschehen bleibt und Öcalans Festnahme in Rom als Flucht nach vorne erscheint. Kurdische Sprecher und Öcalans Anwalt in Italien behaupten ebenso wie Öcalan selbst - per Videoaufzeichnung in Med-TV -, daß er sich freiwillig in die Hände der italienischen Behörden begeben habe. Es versteht sich von selbst, daß die italienische Regierung jede Vorinformation über eine Einreise Öca-lans bestreiten muß.

Bei den Optionen, die Öcalan in seiner Situation offenstanden, ist eine Art Selbstauslieferung an Italien durchaus eine zwar risikoreiche, aber auch Chancen bietende Möglichkeit. Bei aller Kritik an seinem Führungsstil und Nationalismus ist Öcalan doch alles andere als ein naiver und selbstmörderischer Hasardeur. Denn als selbstmörderisch dürfte dem gewieften Taktiker Öcalan eher die Aussicht erschienen sein, irgendwo in Rußland oder einem osteuropäischen Land ein unsicheres und stets von Attentaten des türkischen Geheimdienstes bedrohtes Exildasein zu fristen - laut kurdischen Quellen gab es schließlich allein in den letzten Monaten in Syrien zwei versuchte Anschläge auf Öcalan.

Es besteht natürlich das Risiko, daß Öcalan von Italien doch an die Türkei ausgeliefert wird und dort im Knast verschwindet. Auch ein umstandsloses politisches Asyl für Öcalan, das dieser inzwischen mit einem Hungerstreik durchzusetzen versucht, ist in Italien zumindest zweifelhaft. Immerhin wäre das ein außenpolitischer Affront gegen die Türkei, der das Verhältnis zwischen beiden Ländern nachhaltig zerrütten könnte. Auch die USA, auf die das Nato-Mitglied Italien außenpolitisch Rücksicht nehmen muß, dürften davon kaum begeistert sein. Sie werden deshalb bereits von der Türkei bearbeitet, auf Italien Druck für eine Auslieferung Öcalans zu machen.

Vor diesem Hintergrund kommt nun die bereits eifrig als aussichtsreich diskutierte Möglichkeit eines deutschen Auslieferungsbegehrens ins Spiel. Die bisherigen PKK-Verfahren in der BRD zielten natürlich darauf, die PKK als terroristische Vereinigung nach Paragraph 129 a zu kriminalisieren und politisch zu delegitimieren. Mit dem Fall Kani Yilmaz hat sich aber Anfang dieses Jahres etwas bewegt, was Öcalan als ausbaufähige Möglichkeit für sich selbst vorschweben könnte. ERNK-Europasprecher Yilmaz war in Großbritannien auf dem Weg zu Gesprächen mit Parlamentariern in Haft geraten. Die britischen Justizbehörden lieferten ihn nach zwei Jahren schließlich an Deutschland aus, wo ihn eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Anstiftung zu Brandstiftung und Sachbeschädigung erwartete.

Tatsächlich wurde Yilmaz aber in einem freundlichen "Dialog-Verfahren" nach offenbar zuvor zwischen seinen Anwälten, Bundesanwaltschaft und Staatsschutzsenat abgesprochenen Vorgaben vergleichsweise milde bestraft. Da die Strafe zur Hälfte auf die britische Auslieferungshaft angerechnet und der Rest zur Bewährung ausgesetzt wurde, konnte Yilmaz das Gericht als freier Mann verlassen und ist heute wieder ERNK-Europasprecher. Ende Oktober konnte er so in Italien im römischen Senatsgebäude eine Pressekonferenz geben.

Gegen Öcalan existieren wegen eines ihm zugeschriebenen Mordbefehls gegen abtrünnige PKKler in Deutschland schwerer wiegende Vorwürfe als gegen Yilmaz. Dennoch könnte der PKK-Chef die Möglichkeit eines abgemilderten Strafverfahrens in Deutschland als letzte Chance sehen, um in juristisch geläuterter Form doch noch den langersehnten Eintritt in die Sphäre der offiziellen Politik zu erlangen. Zugleich würde das Thema Kurdistan über einen Prozeß gegen ihn auch Thema auf der internationalen Bühne.

Sollte Öcalan in Italien kein Asyl erhalten, könnte auch ein Gefängnisaufenthalt hilfreich sein: Als politischer Gefangener hätte er die Möglichkeit, im Knast an einem Imagewandel als geläuterter und ernsthafter kurdischer Politiker zu arbeiten. Und die Türkei könnte nach einem möglichen Ende des Guerillakrieges langsam ebenfalls zu mehr Kompromißbereitschaft in der Kurdenfrage gedrängt werden.