Wahlkampf mit Justiz

In der Türkei sind Oppositionsparteien vom Verbot bedroht

Es ist nicht klug, sich vor den Generälen nicht in acht zu nehmen - so lassen sich die Kommentare von Staatspräsident Süleyman Demirel zwei Monate vor den Wahlen in der Türkei zusammenfassen. Mehrmals meldete sich das türkische Staatsoberhaupt in der vergangenen Woche zu Wort, um seine Zuhörer in der ihm eigenen gewundenen Art wissen zu lassen, daß er zwei Militärputsche in seiner politischen Laufbahn erlebt habe und nun wisse, wie der nächste zu verhindern sei.

Ministerpräsident Bülent Ecevit folgte ihm auf dem Fuß. Mehrfach erklärte er vor den Medien, worin die Aufgabe seiner Minderheitsregierung vor den Wahlen bestehe. "Als wir die 56. Regierung gründeten, versprachen wir, das Land friedvoll zu den Wahlen am 18. April zu geleiten. Die Hauptbedingungen dafür sind, den Mißbrauch der Religion und den Separatismus zu verhindern."

Und pflichtbewußt verschickte das Präsidium des Ministerpräsidenten Direktiven an die Provinzgouverneure, Kreisverwaltungen, Polizeistationen und Staatsanwaltschaften, wie Fundamentalismus und Separatismus zu verhindern seien. Die verantwortlichen Stellen arbeiten gewissenhaft. Kurz nach der Entscheidung der prokurdischen Demokratischen Volkspartei (Hadep), an den allgemeinen und lokalen Wahlen am 18. April teilzunehmen, erhob der Oberste Staatsanwalt der Republik, Vural Savas, Anklage und leitete ein Verfahren zum Verbot der Partei ein.

Der Boden für ein solches Verfahren ist gut vorbereitet. Nach der Ankunft von PKK-Chef Abdullah Öcalan in Rom im November hatten verschiedene Parteibüros der Hadep einen Hungerstreik organisiert, um für eine Diskussion der Kurdenfrage auf internationaler Ebene zu plädieren. Die türkischen Sicherheitskräfte führten daraufhin in verschiedenen Bezirksbüros und der Parteizentrale Durchsuchungen durch und verhafteten einen Teil der Parteiführung auf Landes- und Regionalebene.

Die Gerichtsverfahren laufen, die Voruntersuchungen nahmen für die Staatsanwaltschaft der Staatssicherheitsgerichte über zwei Monate in Anspruch. Die Parteifunktionäre wurden nicht aus der Untersuchungshaft entlassen, die Partei also de facto enthauptet.

Die Szenen aus den verschiedenen Gerichtssälen sind bezeichnend: Vor der zweiten Kammer des Staatssicherheitsgerichts Ankara wird der Parteivorsitzende Murat Bozlak mit einer Parteifunktionärin und sieben Lokalpolitikern unter dem Vorwurf der separatistischen Propaganda angeklagt. Hauptbeweismittel: unerlaubte Veröffentlichungen. Schon am ersten Verhandlungstag, dem 8. Februar, stellte sich heraus, daß die in der Anklageschrift auftauchenden Veröffentlichungen und Gegenstände nicht mit den während der Vernehmung der Angeklagten in das Protokoll aufgenommenen übereinstimmen.

Das ostanatolische Urfa ist Schauplatz eines weiteren exemplarischen Prozesses: Die lokale Parteiführung und der Korrespondent der zur Zeit geschlossenen prokurdischen Zeitung Ülkede Gündem werden ebenfalls wegen Besitzes unerlaubter Veröffentlichungen angeklagt.

Die fortlaufenden Prozesse und das allgemein gegen die Partei neu eröffnete und die Schließung fordernde Gerichtsverfahren eröffnen folgende Perspektiven: Falls die Verfahren vor den Wahlen gegen die Partei entschieden werden, wird die Hadep von den Urnengängen ausgeschlossen. Fallen die Entscheidungen nach den Wahlen und sollten es die prokurdischen Politiker tatsächlich bewerkstelligt haben, in die türkische Nationalversammlung und die Stadtverwaltungen einzuziehen, kann ihnen die Immunität entzogen werden; sie verlieren dann ihr Mandat und ihre Ämter und müssen ihre Strafen antreten.

Die prokurdische Partei ist seit dem Verbot ihrer Vorgängerin Demokratiepartei (Dep) im Parlament nicht vertreten. Sieben Abgeordnete der Dep wurden 1994 nach der Aberkennung ihrer parlamentarischen Immunität aus dem Parlamentsgebäude heraus verhaftet und vier von ihnen nach einem Marathonprozeß zu Haftstrafen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren verurteilt. Trotz internationaler Proteste befinden sich die Abgeordneten Hatip Dicle, Orhan Dogan, Selin Sadak und Leyla Zana immer noch in Haft.

Von diesem Schlag hat sich die Partei bis heute nicht erholt. Die Dep boykottierte wegen der 1994 sich anbahnenden Angriffe auf die Partei die Kommunalwahlen von 1994 und überließ so in den südöstlichen kurdischen Provinzen die Stadtverwaltungen vor allem der islamistischen Wohlfahrtspartei.

Die Nachfolgepartei Hadep scheiterte bei den Wahlen 1995 an der Zehn-Prozent-Quote auf Landesebene, obwohl sie bei den Einzelergebnissen in den südostanatolischen Provinzen klare Wahlsiege errungen hatte. Wieder profitierten die Islamisten vom Ausschluß der prokurdischen Partei. Sie hatten vor allem die Gemeinsamkeit der Religion von Türken und Kurden betont und versprochen, auf dieser Ebene etwas zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Region zu unternehmen.

Die weiteren Entwicklungen bis zu der Warnung vor Separatismus und Religionsmißbrauch der Staatsoberhäupter von vergangener Woche, die auf die prokurdische Partei und die Islamisten zielen, werfen ein bezeichnendes Licht auf die türkische Demokratie. Nachdem das konservative Lager - die Mutterlandspartei (Anap) Mesut Yilmaz' und die Partei des rechten Weges (Dyp) von Tansu Çiller - sich wegen der Rivalitäten der Parteivorsitzenden nicht auf eine Regierungskoalition hatten einigen können, kam es zu einer Regierungskoalition zwischen der Dyp und der islamistischen Wohlfahrtspartei Erbakans. In deren Amtszeit fielen die Nachrichten über die Zusammenarbeit zwischen Staat, Politik und Mafia, bei der im Namen der Anti-Terror-Politik Kontraguerilla-Aktivitäten, Drogen- und Waffenschmuggel gebilligt werden.

Der von den türkischen Militärs dominierte Nationale Sicherheitsrat, dem Staatspräsident Süleyman Demirel de facto als Sprachrohr des Militärs vorsitzt, reagierte schnell: Der islamistische Fundamentalismus wurde zum staatsgefährdenden Element Nummer eins erklärt, und dieses Thema überlagerte in einer wohl überlegten Kampagne alle anderen: Die Çiller-Erbakan-Regierung wurde de facto abgesetzt, die islamistische Wohlfahrtspartei verboten und Islamistenführer Erbakan vom Amt des Ministerpräsidenten ins politische Aus befördert: Der 74jährige wurde mit jahrelangem Politikverbot belegt.

Auch die Islamisten sind in Gefahr: Verhält die islamistische Fraktion im Parlament - immerhin Mehrheitsfraktion -, die wie die Hadep nach dem Verbot der Wohlfahrtspartei ebenfalls eine Nachfolgepartei, die Tugendpartei, gründete, sich nicht angepaßt, kann die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen sie eröffnen: Falls den Abgeordneten nachgewiesen werden kann, daß sie in der Nachfolge der verbotenen Wohlfahrtspartei stehen, können auch sie ihre Immunität verlieren.

Ministerpräsident Bülent Ecevit erließ vergangene Woche bereits eine Warnung an andere Parteien, sich nicht in der Nähe des Feuers zu bewegen. Der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei, die mit den Hadep-Politikern zur Zeit über eine gemeinsame Dachpartei verhandelt, die den prokurdischen Politikern einen sicheren Einzug ins Parlament und den Sozialdemokraten die Stimmen im Südosten sichern würde, bedeutete er, vor einer solchen Entwicklung in das sichere Chaos könne er nur warnen.