Die hilflose Psychoanalyse

Neue Materialien über die Links-Freudianer während der NS-Zeit: Otto Fenichels "119 Rundbriefe"

In meiner kleinen Sammlung "Hilflose Erklärungen für den Antisemitismus", der ich auch meine eigenen Versuche angegliedert habe, befindet sich seit längerer Zeit ein Aufsatz von Otto Fenichel. Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den der marxistische Psychoanalytiker zum ersten Mal 1937 in Prag gehalten hat. In seiner endgültigen Fassung erschien der Text kurz nach Fenichels Tod, 1946, in dem von Ernst Simmel edierten Sammelband "Anti-Semitism: a Social Disease".

Fenichel gibt nicht vor, die ganze Ätiologie dieser Krankheit der Gesellschaft zu kennen, und überschreibt seinen Aufsatz vorsichtig mit "Elemente einer psychoanalytischen Theorie des Antisemitismus" (dt. in: "Aufsätze", Bd. 2, Ffm., Berlin, Wien 1985). Darin findet sich viel Bedenkenswertes über den Antisemitismus als einen "von außen angeregten Prozeß der Verschiebung". Der Antisemit projiziere auf die Gestalt des Juden sein eigenes Elend - "nicht nur seine gesellschaftlichen Unterdrükker, sondern auch seine eigenen unbewußten Triebe, die durch ihre gesellschaftlich erzwungene Verdrängung blutig, schmutzig und schrecklich geworden sind". Dem Antisemiten kommt der Jude deshalb "unheimlich" vor, weil in der mit ihm assoziierten archaischen Religion - besonders durch die Praxis der Beschneidung und die Vorstellung von der "Ermordung Gottes" - das Verdrängte wiederzukehren scheine.

Es ist also eine Deutung, die materialistisch entschlackt und zuspitzt, was der alte Freud in "Der Mann Moses" (und andeutungsweise schon in früheren Texten) als Erklärung für den Antisemitismus angeboten hatte. Und sie erscheint hilflos - nicht nur, weil eine solche Auslegung den Antisemiten als ein Opfer hinstellt, gereizt und getrieben von den Verletzungen durch Familie und Gesellschaft, sondern vor allem, weil es sich verbietet, die Ereignisse nach 1938 bloß für Effekte einer Massenneurose zu halten.

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Es ist dieselbe Hilflosigkeit, die einem an den nun zum ersten Mal veröffentlichten (und von den Herausgebern hervorragend aufbereiteten) "Rundbriefen" Fenichels auffällt. Otto Fenichel verschickte sein Zirkular an eine Handvoll gleichgesinnter Analytikerinnen und (in der Minderzahl) Analytiker, alle aus (assimilierten) jüdischen Familien stammend, alle von sozialistischem Bekenntnis und fast alle bereits in den ersten beiden Jahren des Nazi-Regimes aus Deutschland emigriert. Die "Rundbriefe" waren ein Versuch, die eigenen Interessen innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) zu wahren und die Diskussion auch im Exil fortzusetzen. Und sie waren eine höchst klandestine Angelegenheit, wenn auch den Adressatinnen und Adressaten Fenichels Aufforderung lächerlich vorgekommen sein mag, die Briefe sofort nach Lektüre zu vernichten; sie hielten sich jedenfalls nicht daran.

Die "Rundbriefe" sind eine aufschlußreiche Materialsammlung zur Geschichte nicht nur der linken Psychoanalyse. Fenichel galt selbst der IPV als der am besten informierte und fairste Geschichtsschreiber der psychoanalytischen Bewegung. Er kannte auf dem Gebiet nahezu alle neuen Aufsätze und Bücher und stellte für seine Leser Abstracts und Kommentare zusammen, er besuchte alle wichtigen Kongresse, er behielt den Überblick über die einzelnen Ländergruppen. In seinen "Rundbriefen" finden sich aber nicht nur seine trockenen und konzisen Analysen, Fenichel schaltet Korrespondenzen über die internationale Diskussion ein, er regt unermüdlich Debatten an und läßt seine Gegner - darunter bald Wilhelm Reich, am Ende Erich Fromm - ausführlich zu Worte kommen.

Und doch wundert sich der Leser immer wieder über die politische Hilflosigkeit dieses hochreflektierten Mannes; vor allem, wenn Berichte aus Berlin eintreffen: Schon Ende 1933 war eine psychologische Nazi-Fachschaft begründet worden, in der C.G. Jung die "Verschiedenheiten der germanischen und jüdischen Psychologie" auseinandersetzte. Aber auch die ansässigen Freudianer wollten sich von nun an ganz der "Erziehung des heldischen Menschen" widmen. In den Räumen der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft hing damals neben dem Porträt Freuds das Hitlers. Der Vorsitzende dieser Gesellschaft, Felix Boehm, erklärte in einem Memorandum, die Psychoanalyse bemühe sich "nicht allein - auf körperlichem Gebiet - sexuell unfähige Menschen zu sexuell fähigen zu machen, sondern überhaupt auf allen Gebieten des Menschseins unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren" usw. usw. und natürlich "am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen" umzuformen. Folgerichtig strebte er den Anschluß an die Gesellschaft für Psychotherapie an, die ihren Mitgliedern die Lektüre von "Mein Kampf" zwingend vorschrieb.

Die Reaktion nicht nur der IPV, sondern auch des Fenichel-Kreises fiel kläglich aus. Man wartete ab, man taktierte. Als am 1. Dezember 1935 die letzten Juden aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft ausgeschlossen wurden, der Analytiker Bernhard Kamm, "solidarisch mit den Juden", austrat und Kamm Fenichel fragte, ob er nun endlich bei der IPV einen Ausschlußantrag gegen die Nazi-Psychoanalytiker stellen solle, erhielt er zur Antwort: "Ich meine, daß es aus mehreren Gründen angezeigt wäre, wenn ein solcher Antrag von nichtdeutscher Seite käme (...). Ich vermute ja, daß der Zentralvorstand von sich aus einen entsprechenden Antrag stellen wird." Doch der Zentralvorstand handelte auch nicht politischer als die marxistischen Analytiker und ließ das Verhängnis seinen Lauf nehmen.

Um so erfrischender wirkt das Berserkertum Wilhelm Reichs, der in dieser Zeit gerade von der Charakter- zur Muskelanalyse überging und mit seinem "messianischen Getue" (Erich Fromm) allen auf die Nerven fiel. Er wies bereits 1934 auf die "Schande der Bestrebungen führender Analytiker, sich gleichschalten zu lassen", wenn er auch die Ursache dafür darin sah, daß sie keine Reichianer waren. In den Zeiten des Terrors scheint der Amokläufer vernünftiger zu handeln als der klug Abwägende: Wo Fenichel zögerte, sprach Reich ein Machtwort. Und während Fenichel auf dem IPV-Kongreß von Luzern (1934) lavierte, wurde Reich ausgeschlossen - wenn auch nicht wegen antifaschistischer Umtriebe, sondern wegen seiner Abweichung von der Lehre.

Dafür blieb Fenichel, anders als Reich, immer zu Differenzierungen und sogar zur Selbstkritik fähig. Unter dem 1. Juni 1937 notiert er: "Daß es im Interesse der Analyse, wie wir es verstehen, am besten gewesen wäre, Institut und Vereinigung im Frühjahr 1933 freiwillig aufzulösen, kann heute wohl keinem Zweifel mehr unterliegen. Ich muß gestehen, daß ich und E.(dith) J.(acobsohn) im Gegensatz zu Reich damals den entgegengesetzten Standpunkt vertraten." Jacobsohn, die in Berlin geblieben war, bezahlte den Fehler mit drei Jahren Zuchthaus. Im Oktober 1938 konnte sie nach New York fliehen.

Fenichel erkannte nach der Selbstkritik 1937, daß sich hinter "den theoretischen Unsicherheiten", die sich seinem prüfenden Blick in neueren Arbeiten entdeckten, "praktische Unsicherheiten verbergen". In seinem Prager Abschiedsvortrag 1938 nannte er die Bedrohung der Psychoanalyse endlich beim Namen - obwohl er sich ungewöhnlich gewunden ausdrückte: "Wenn (der Psychoanalyse) heute die physische Ausrottung droht, so nicht deshalb, weil der Gegner in ihr eine hohe latente revolutionäre Gefahr direkt fürchtet; sondern das geht komplizierter zu, und zwar nimmt es den Umweg über den Antisemitismus, der selbst wieder ein sehr kompliziertes Phänomen ist, das wir heute nicht untersuchen wollen. Die Psychoanalyse wird vor allem als eine jüdische Wissenschaft verfolgt." Bis dahin hatte er dem Thema Antisemitismus und Nationalsozialismus wenig Raum gegeben (es erscheint in drei längeren Kritiken zu Studien über Hitler, den lettischen Faschismus und den Faschismus allgemein).

Zuerst in Oslo, zog Fenichel - um Reich zu entkommen, der in Norwegen residierte - ins unsichere Prag und übersiedelte von da 1938 nach Los Angeles. Eine tiefe politische Depression hatte ihn erfaßt; nicht nur wegen der Bedrohung der Psychoanalyse durch die Nazis. Die aus der Sowjetunion einlaufende Nachricht, die Neurosen seien unter Stalin abgeschafft geworden, konnte Fenichel genausowenig erheitern wie der Zustand der US-amerikanischen Analyse. Nachdem er jahrelang gegen die Forderung der US-Vereinigung, ein Analytiker müsse eine medizinische Ausbildung nachweisen, angekämpft hatte, nahm Fenichel noch kurz vor seinem Tod ein psychiatrisches Praktikum auf, um die Lehrerlaubnis für Kalifornien zu erlangen.

Die späten "Rundbriefe" zeigen eine stärkere gegenseitige Durchdringung von Politischem und Psychoanalytischem. Dann weicht die Reflexion wieder der "Bewegungspolitik". Und dennoch ist Helmut Dahmers Auffassung ("Libido und Gesellschaft", Ffm. 1982), durch Fenichels "naturwissenschaftliche Stilisierung" der Psychoanalyse sei die "ideologiekritische Arbeit an der Freudschen Theorie (stillgestellt)" und das Soziologische an ihr übersehen worden, nach der Veröffentlichung der "Rundbriefe" obsolet geworden. Fenichel ist nicht Reich. Ziel der Psychoanalyse blieb für Fenichel, wie er in einem Brief an Arnold Zweig formulierte, "die Gesetze der Produktion und Reproduktion der Ideologien in der menschlichen Gesellschaft zum Zwecke ihrer endlichen bewußten Leitung zu erkennen". Auch das Wort von der "naturwissenschaftlichen Stilisierung" trifft auf Fenichel nicht ganz zu, immerhin hielt er die Trieblehre für eine "lediglich heuristische Angelegenheit".

Mit den "Rundbriefen" tritt Fenichels Profil vor dem Reichs stärker hervor. Seine Ablehnung der Freudschen Todestriebkonzeption war nicht so vollkommen wie die Reichs (Fenichel hielt die Wirksamkeit eines "Nirwanaprinzips" für denkbar, wenn er es auch der Libido nicht gleichstellen wollte. Insofern blieb er Anhänger der zweiten Triebtheorie Freuds) und bei aller Kritik an der britischen Schule warnte er doch mehrfach davor, die "Melanie mit dem Bade auszuschütten". Das Witzchen, das (Melanie) Klein mit Kind assoziiert, hätte allerdings auch aus dem Sexpol stammen können.

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Nachdem er die Juden aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft geworfen hatte, reiste deren Vorsitzender Felix Boehm zu Freud, um ihn um Nachsicht zu bitten. Freud warnte Boehm, die Juden seien widerstandsfähiger, als er, Boehm, annehme. Nachdem sich der Nazi getrollt hatte, bemerkte Freud gegenüber seinen Assistenten, er glaube, die Psychoanalyse werde sich in Deutschland nicht halten: "Es ist ein unterwürfiges Volk."

Fenichel, der die Anekdote in einem "Rundbrief" aus dem Jahr 1936 erzählt, wiederholt sie, als er 1939 den "Mann Moses" diskutiert, noch einmal. Doch diesmal schreibt er, Freud habe gesagt: "Die Deutschen sind ein barbarisches Volk." Es ist vielleicht kein Zufall, daß er im Zusammenhang mit "Urhorde" und "Vatermord" das Wort "barbarisch" wählt. Und es ist ganz sicher kein Zufall, daß sich Freud in der Zeit, in der sich der Holocaust anbahnt, der jüdischen Religionsgeschichte widmet.

Den ersten Teil von "Der Mann Moses" beginnt Freud mit dem Satz: "Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört." Und dann will er den Nachweis führen, Moses sei gar kein Jude, sondern ein Ägypter gewesen. Nicht nur um die mythische Vorstellung von der Ermordung Moses' geht es also, der jüdische Urvater wird hier noch einmal ermordet - von Freud.

Liegt darin nicht auch der Sinn, der Vatermord - oder sagen wir es zivilisierter: die Beseitigung der Autorität - erst schaffe die Voraussetzungen dafür, nicht mehr "unterwürfig", nicht mehr "barbarisch" zu sein? Freud, der 1920 an Ernest Jones schrieb: "Ich bin sicher, daß in einigen Jahrzehnten mein Name vergessen sein wird, aber daß unsere Entdeckungen bestehen werden", könnte damit nicht nur die Hoffnung bekundet haben, die Psychoanalyse werde irgendwann endgültig als Wissenschaft anerkannt, sondern auch jene, er als Urvater dieser Schule werde von nicht-unterwürfigen Söhnen überwunden. Otto Fenichel gehörte zu diesen Nicht-Unterwürfigen und deshalb auch zu denen, die die Analyse der Analyse vorangetrieben haben. Gegen ihre deutschen und österreichischen Landsleute haben er und seine Freunde freilich nichts vermocht.

Otto Fenichel: 119 Rundbriefe (1934-1945). Hg. von Elke Mühlleitner und Johannes Reichmayr. Zwei Bände und eine CD-Rom mit dem Volltext. Stroemfeld, Frankfurt/ Basel 1998, 2 100 S., DM 298 (Subskriptionspreis bis zum 31. März, danach DM 398)