Ostalgie dient der Emanzipation

Vor der Kritik der Ost-Identität sollte eine Gesellschaftsanalyse stehen.

Eines muß man Ivo Bozic lassen: Er ist einer der wenigen Wessis, die es wagen, ungeniert das über den Osten zum besten zu geben, was sich andere nur am Stammtisch zu sagen trauen. Der Kern westdeutscher, linker Stammtischanalyse ist allerdings dann erreicht, wenn "Osten" mit "Hoyerswerda, Rostock und Gollwitz" gleichgesetzt wird. "Ostalgie" hat nach dieser Ansicht nur den Zweck, sich in eine Opferrolle zu begeben, alles Böse nach außen, "auf den Wessi, den Juden und den Behinderten" zu projizieren.

Ost-Identität wird nur als falsches Bewußtsein denunziert, aber nicht erklärt. Gesellschaftliches Bewußtsein wird jedoch, das sollte eigentlich klar sein, von gesellschaftlichem Sein bestimmt, oder doch wenigstens geprägt. Wenn Ost-Identität das Denken, Fühlen und Handeln von derart vielen Menschen zwischen Elbe und Oder derart weit bestimmt, muß es dafür Gründe geben, die nicht in den Gemütern der Menschen wurzeln, sondern in den gesellschaftlichen Realitäten der angeschlossenen DDR zu kurz kommen. Statt Ideologiekritik wäre also hier vor allem erst einmal etwas Gesellschaftsanalyse notwendig.

Eine Ursache für die Virulenz ostdeutschen Selbstbewußtseins ist die quasi-koloniale Gesellschaftsstruktur zwischen Oder und Elbe. Denn der Zusammenbruch und die Entwertung der DDR sind nicht einfach nur Ergebnis der "unsichtbaren Hand" des kapitalistischen Weltmarktes, sondern wesentlich eine Folge der von der westdeutschen herrschenden Klasse betriebenen monetaristischen Entwertungs- und Abwicklungspolitik (unter der auch Rheinland-Pfalz in die Knie gegangen wäre, hätte es sie je erleiden müssen) gegen die DDR. Das Resultat dieser Politik ist nicht nur die industrielle Verödung Ostdeutschlands gewesen, sondern auch ein ungeheurer Vermögenstransfer nach Westen. Die Besitzer von Fabriken, Immobilien und dicken Bankkonten sind darum heute in der ehemaligen DDR so gut wie immer Westdeutsche.

Genau dasselbe gilt für die politischen Führungsstäbe: Angemessen repräsentiert sind Ostdeutsche nur in den Landtagen und im Bundestag (und dort wohl auch nur durch das Vorhandensein der PDS). In den Chefetagen der Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden und in der Medienelite kommt gerade mal jeder zehnte aus der DDR, in der Wissenschaft noch weniger. Faktisch nicht vorhanden sind Ossis in den Führungsstäben des Militärs, in den Spitzenetagen der Verwaltungen und in den Managerzentralen der großen Konzerne. In der sozialwissenschaftlichen "Elitenzirkulationsforschung" über Ostdeutschland gilt mittlerweile der sogenannte "doppelte Rangeffekt" als Binsenweisheit: Je höher die Position in Verwaltung, Justiz, Rundfunkanstalten oder Banken, desto höher ist der Anteil Westdeutscher, je niedriger die Ebene, desto häufiger ist ostdeutsches Personal vertreten.

In einer solchen Gesellschaftsstruktur ist die Verknüpfung von "oben" mit "Westen" und von "unten" mit "Osten" nahezu zwangsläufig. Und hier entsteht Ost-Identität - in der Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaftsstruktur und als kollektives Erfassen von Unterprivilegierung. Die gemeinsame Unterprivilegierung der Ossis wird zu einer kollektiven Erfahrung, die "uns hier" verschieden von "denen da drüben" macht. Macht im Westen und Machtlosigkeit im Osten werden zu einem Grundmuster gesellschaftlicher Wahrnehmung.

Wie in der Realität sind darum auch in den Witzen Ossis immer arm und arbeitslos, während die Wessis die Chefs sind, die einen dicken Mercedes fahren.

Mit der Formulierung einer gemeinsamen Ost-Identität schaffen sich Ostdeutsche darum einen Boden, auf dem sie ihre Lage verstehen, interpretieren und sich in sozialen Konflikten verorten können. Dabei erfinden sie sich selbst als ethnische Gruppe. Sie stecken einen eigenen Raum für symbolische Politiken ab, in dem sie ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre gemeinsame Unterprivilegierung betonen und in dem sie sich mit Machtverhältnissen auseinandersetzen.

Und genau damit bauen sie sich, völlig unabhängig von allen innerlinken Wertedebatten, die Grundlagen für eine emanzipative Politik auf. Sie formulieren kollektive Interessen, sie klagen ihre Benachteiligung in den gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen an und sie fordern (bisher noch sehr verhalten) Veränderung.

Der Autor ist Mitarbeiter der ostdeutschen Zeitschrift telegraph.