André Brie

»Die SPD muß der Hegemon sein«

Der 1950 in Schwerin geborene Brie trat 1969 der SED bei, ein Jahr später begann er aus eigenem Entschluß, mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst zusammenzuarbeiten - ein Kontakt, den die Stasi 1989 abbrach. Da hatte der Politologe gemeinsam mit seinem Bruder Michael und dem heutigen Leiter des PDS-Programm-Kommission, Dieter Klein, bereits damit begonnen, an der Berliner Humboldt-Universität an Reformkonzepten für den DDR-Sozialismus zu arbeiten. Die Überlegungen des Trios sollten später die Grundlagen der programmatischen Plattform in der SED/PDS bilden. Anfang 1990 wurde Brie in den Parteivorstand der SED-Nachfolgerin PDS gewählt, übernahm die Leitung des Wahlbüros und der Kommission "Politische Bildung". Als "Reformer" in der PDS forderte er seine Partei immer wieder zur Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte auf und geriet dabei vor allem mit den Vertretern der Kommunistischen Plattform aneinander. Zuletzt, als er im Januar behauptete, die DDR sei in bestimmten Aspekten "totalitärer" als der Nationalsozialismus. Auf dem Europa-Parteitag der PDS wählten ihn die Delegierten auf Platz zwei der Liste für die Europawahlen. Daneben leitet Brie weiterhin das Wahlbüro der PDS.

Auch wenn die Frage hypothetisch ist: Würden Sie nach seinem Rücktritt Oskar Lafontaine nicht gerne als Berater einstellen?

Nein, sicherlich nicht. Oskar Lafontaine steht für eine Richtung in der Sozialdemokratie, die sich offensichtlich in der SPD nicht mehr durchsetzen kann. Ich glaube aber auch, daß er für eine sozialistische Partei, die einen dezidiert kapitalismuskritischen Ansatz vertritt und darüber hinaus immer noch stark ostdeutsch geprägt ist, als Berater kaum in Frage käme.

Zu seinem Abschied hat Lafontaine gesagt: "Das Herz schlägt links." Spricht das nicht dafür, daß er in der PDS das durchsetzen könnte, woran er in der Regierungs-SPD gescheitert ist?

Ihm ist wahrscheinlich klar, daß er einen traditionellen sozialdemokratischen Ansatz - soziale Gerechtigkeit, Umverteilung von oben nach unten - in der heutigen, neoliberal geprägten SPD nicht durchsetzen kann. In den letzten Jahren aber habe ich bei Oskar Lafontaine all das vermißt, was er 1987 noch geschrieben hat: wirkliche Bankenkontrolle, ein anderes Bundesbankgesetz. Die Ansätze, die es da bei ihm gab, waren für SPD-Verhältnisse vielleicht erfreulich, doch angesichts dessen, was politisch und gesellschaftlich notwendig wäre, griffen auch die zu kurz.

Auch Sie sind schon einmal zurückgetreten - von Ihrem Posten als Wahlkampfleiter -, haben dann aber einen Rücktritt vom Rücktritt gemacht.

Das ist nicht mit Lafontaine vergleichbar. Ich bin aus einer ganz persönlichen, verzweifelten Situation dazu gekommen, während es bei ihm das Eingeständnis eines politischen Scheiterns ist. Angesichts dieser Ausweglosigkeit gegen eine ungeheure Dominanz von neoliberalem Denken bis weit in die SPD, in die Grünen hinein, wird ihm nichts anderes übrig geblieben sein - und existiert auch kein Weg zurück.

Aber in einem ähnlichen Dilemma stecken Sie in der PDS doch auch. Während Lafontaine es in der SPD mit den Neoliberalen zu tun hat, müssen Sie sich ständig mit den sogenannten Kommunisten, der Kommunistischen Plattform etwa, auseinandersetzen.

Wir haben wahrscheinlich tatsächlich ein gemeinsames Problem. Ich bin überzeugt, daß diese Gesellschaft radikal verändert werden muß, daß die Veränderungsnotwendigkeiten ein dramatisches Ausmaß angenommen haben. Aber dem Gros der Gesellschaft scheint ein solcher Gedanke völlig abwegig zu sein. Die Menschen können gar nicht darüber diskutieren.

Unter solchen Umständen sind Ziele, die Lafontaine vertreten hat, in der SPD nicht mehrheitsfähig. Aus der gleichen Quelle speist sich ein Problem der PDS: In der Partei gibt es Teile, die nur die Veränderungsnotwendigkeit sehen und sich die Frage nicht mehr stellen, wie man das aus einer blockierten Gesellschaft, die zur Zeit kulturell und geistig von Konservativen, von Neoliberalen beherrscht wird, entwickeln soll. Für die Kommunistische Plattform oder das Marxistische Forum existiert diese Frage des Weges überhaupt nicht. Die haben Ziele, die sehen auch einen Veränderungsdruck - und das reicht ihnen. Wie man dafür Millionen Menschen gewinnt; daß man überhaupt diese Millionen Menschen gewinnen muß; daß es nur mit Mehrheiten geht; daß in dieser Gesellschaft erst mal Diskussion und Bewegung notwendig ist, bevor man ernsthaft in diese Richtung gehen kann, spielt für sie keine Rolle. Das ist ein Gedanke, der ihnen nicht einmal kommt.

In den Ostländern ist die PDS mit ihren Rückgriffen auf die DDR seit bald zehn Jahren drittstärkste Partei in allen Parlamenten.

Das ist schon etwas differenzierter und komplizierter. Ich glaube, daß im Osten kaum jemand zurück zur DDR will. Aber natürlich gibt es eine gewisse Verklärung, die auch verständlich ist angesichts der Demütigungen, der ungeheuren sozialen Probleme, der Enttäuschung über diese Gesellschaft. Und sie ist trotzdem politisch gefährlich. Letzten Endes ist sie sogar Nährboden für die politische Rechte. Und sie macht einen politikunfähig. Auf diesen Wegen werden wir nicht aus der Sackgasse herauskommen.

Zurück zu Lafontaine. Gemeinsam mit SPD-Geschäftsführer Schreiner stand er für einen Annäherungskurs an die PDS. Gibt es nun, wo Schröder Parteichef wird, einen Roll-Back?

Lafontaine und Schreiner war klar, daß die SPD eine linke Herausforderung brauchte - neben dem Ziel, die PDS möglichst überflüssig zu machen. Auch Schröder wird hier machtpolitisch ganz pragmatisch herangehen. Ich halte das für unumkehrbar. Bei dem Kurs, den er bislang schon gefahren ist und den er jetzt gemeinsam mit Müller - und auch Fischer - verschärfen wird, wird die SPD die sozial-orientierten Teile der SPD-Wählerschaft nicht mehr ansprechen können. Die PDS hat hier beträchtliche Chancen, auch in Westdeutschland neue Wählerschichten zu gewinnen.

Aber heißt das, was Sie von der PDS bis ins Jahr 2002 verlangen - nämlich auch auf Bundesebene koalitionsfähig zu werden - nicht einfach, sich der SPD anzupassen?

Das Problem der Koalitionsfähigkeit, das ist die symbolische Ebene. Man kann als Linker über diese SPD verzweifelt sein, aber ohne SPD wird in diesem Land nun einmal keine alternative Politik möglich sein. Mit der SPD, so wie sie jetzt ist, wird es das natürlich auch nicht geben.

Aber eine unter Druck von Links - von Gewerkschaften, linken Kirchenkreisen und anderen, möglichst aus der PDS kommenden gesellschaftlichen Bewegungen - gewandelte SPD wird der Hegemon sein müssen. Und hier muß die PDS zusammenarbeitsfähig sein. Aber das heißt eben auch, sich deutlich von der SPD zu unterscheiden, eine sozialistische Partei, eine kapitalismuskritische Partei zu sein. Als eine zweite Sozialdemokratie würden wir nicht einmal zusammenarbeitsfähig sein.

Wäre es denn in vier, fünf Jahren tatsächlich so weit, dann ginge die PDS eine Koalition unter den Vorgaben der "Berliner Republik" ein: Sie käme nicht umhin, Nato-Einsätze mitzutragen und deutsche Positionen innerhalb der EU forsch bis nationalistisch zu verteidigen.

Ich denke, es gibt Themen - wie die Militär-Einsätze -, bei denen die PDS bei Strafe ihres Untergangs beim Nein bleiben muß: Aus der Notwendigkeit - die ja nicht aus der Welt ist -, internationale Politik zu zivilisieren. Und auch wenn wir zur Zeit den entgegengesetzten Prozeß erleben.

Mit der Ost-Erweiterung von Nato und EU wächst die geostrategische Bedeutung dieses Landes noch mehr. Die Bereitschaft, damit verantwortungsbewußt umzugehen, schwindet. Für mich taucht das von Thomas Mann mal beschworene Problem wieder auf, daß es nicht um ein deutsches Europa, sondern um ein europäisches Deutschland gehen muß. Auch das ist in Frage gestellt.

Auch innerhalb der PDS gibt es nationalistische Tendenzen. Wie will die Partei diesen Spagat denn hinbekommen, zugleich ostdeutsche Interessen und europäische Ziele zu vertreten?

Herauszutreten aus der Heimeligkeit einer ostdeutschen Identität in ein widerspruchvolles Europa bedeutet ja, das eigene Selbstbewußtsein in Frage zu stellen. Wir haben natürlich meßbar, bis weit in die PDS-Wählerschaft hinein, Momente eines echten Nationalismus, von Law-and-Order-Positionen, von Intoleranz und Xenophobie. Über fünfzig Prozent der PDS-Wähler fanden bei unserer eigenen Wahlkampf-Umfrage die Republikaner-Losung "Deutsche Arbeitsplätze nur für Deutsche" sehr gut oder gut. Das liegt nur geringfügig unter dem ostdeutschen Durchschnitt.

Ein ambivalenter Beitrag in den letzten neun Jahren bestand ja darin, daß wir das durchaus wesentlich größere rechte Potential in Ostdeutschland zum Teil integriert haben. Vor allen Dingen die, die mit rechten Wertorientierungen Protestwähler sind und in Westdeutschland DVU oder Reps gewählt haben, konnten hier aufgefangen werden. Bloß, das reicht nicht aus. Man muß an solche Wertorientierungen und Vorbehalte wirklich herantreten - auch wenn das leicht gesagt ist.

Dennoch bedient die PDS diese Klientel immer wieder - mit programmatischen Phrasen wie der, man müsse die "kulturelle Identität" stärken.

Jeder Mensch ist sehr reich in seinen Wertorientierungen. Ich denke, daß uns etliche trotz unserer Haltungen zu offenen Grenzen für Menschen in Not oder unserer Positionen auf sozialem Gebiet, möglicherweise aber auch, weil wir die einzige Partei sind, die gegen Militäreinsätze ist, gewählt haben. In dieser Vielfalt von Wertorientierungen hat die PDS einen legitimen Platz und eine Wählerschaft, der sie mit Achtung gegenübertreten kann.

Glauben Sie denn, daß die Wähler, die Sie als Protestwähler bezeichnen und die in Mecklenburg-Vorpommern zuletzt PDS gewählt haben, das nächste Mal DVU wählen - abgeschreckt vom Regierungs-Pragmatismus der PDS?

Die Protestwähler sind bei weitem nicht die größte Wählerschicht der PDS, ihr Protest in diesem Land aber dringend notwendig. Natürlich nicht aus rechten Motiven, aber als sozialer Protest, als politischer Protest. Dazu muß die PDS ein klares Profil als linke Oppositions-Partei gegen die Bundesregierung entwickeln. Und sie muß auch in einer Landesregierung nachweisen, daß alles, was von ihr abhängig ist, getan wird, um die Wahlversprechen einzulösen.

Mit einer sozialdemokratischen Politik?

Sozialistische Politik können Sie nur auf gesellschaftlicher Ebene, im Bund, machen. Im Land können sie sozialistische Wertorientierungen aufrecht erhalten. Also auch bei den kleinsten Schritten, selbst bei Schritten rückwärts, muß die PDS in Mecklenburg-Vorpommern Werte wie soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit oder Bürgernähe praktizieren. Aber Sie können kein sozialistisches Mecklenburg-Vorpommern anstreben. Dazu wären erst einmal auf Bundesebene die Rahmenbedingungen zu verändern.