Saurer Tokajer

Ungarn macht sich fit für den EU-Beitritt. 2002 soll es so weit sein, doch daraus wird wahrscheinlich nichts

Es war eine rührende Szene, die sich zu Jahresbeginn in der Gemeinde Budakeszi am Rande der ungarischen Hauptstadt Budapest abspielte: Ein fein gekleideter grauhaariger Herr mit knorrigen Gesichtszügen drückte dort ein 84 Jahre altes Mütterchen zärtlich an ein Schulterpolster seines Maßanzugs.

Die alte Dame freute sich über den Besuch ihres Neffen aus Deutschland, dessen Eltern als sogenannte Volksdeutsche nach 1945 Ungarn verlassen mußten. Immerhin hat es der Junge zum deutschen Außenminister gebracht. Doch nicht nur dazu: In einer stimmungsvollen Zeremonie erhielt Joseph Fischer unter Zimbalklängen in Anwesenheit seines ungarischen Amtskollegen Janos Martonyi die Ehrenbürgerschaft von Budakeszi. Entsprechend artig war der Neffe. "Mit aller Kraft, aus voller Überzeugung und aus eigenem Interesse" werde sich die rot-grüne Bundesregierung dafür einsetzen, daß die Integration der EU-Beitrittskandidaten "so schnell wie möglich" vonstatten gehe.

Eine andere europäische Integration haben die Ungarn allerdings schon hinter sich. Zeitgleich mit dem jüngst erfolgten Beitritt zur Nato wurden Ungarn, Polen und Tschechien auch zu assoziierten Mitgliedern der Westeuropäischen Union (WEU), in der als Vollmitglieder die zehn europäischen Staaten vereint sind, die sowohl der EU als auch der Nato angehören. Die Mehrzahl der Sitze in der WEU, die seit ihrer Gründung 1948 ein Schattendasein unter den internationalen Organisationen führt, nehmen bereits 13 assoziierte Mitglieder und Partner bzw. fünf Staaten mit Beobachterstatus ein. Eine Mitgliedschaft in der WEU ist also für die ehemaligen Ostblockstaaten eine Art Aufnahmeprüfung für den Beitritt zur EU - vor die ökonomische Integration haben die Brüsseler Herren die militärische gesetzt.

Die von der WEU ausgeübte Sogwirkung ist allerdings nicht mit der nahezu gegenteiligen Aufnahmepraxis der EU vergleichbar: Werden die Neuzugänge vom Militärbündnis geradezu umstandslos aufgenommen, müssen sie beim Wirtschaftsbündnis einige Bedingungen erfüllen, ehe an einen Vollbeitritt zu denken ist.

Zunächst aber mußten die Ungarn den kleinen Schock verkraften, in der wirtschaftlichen Entwicklungsstufe im Ost-Ranking nur an dritter Stelle nach Tschechien und Estland zu erscheinen. Die jüngst vom österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo erstellte internationale Studie wirft allerdings die Reihenfolge in Sachen EU-Reifegrad tüchtig durcheinander, und auch die Einzelergebnisse sind nicht unumstritten.

Daß etwa die Slowaken im Zeitraum 1996 bis 1998 den höchsten Reifegrad im Kriterium Migrationsbereitschaft hatten, nimmt nicht wunder, waren doch zu Zeiten der Regierung des eigenwilligen Vladimir Meciar viel mehr 20 bis 40jährige Slowaken - das ist die für den Arbeitsmarkt relevante Bevölkerungsgruppe - ausreisewillig gewesen als heute. Allerdings ist die hervorragende Beurteilung der polnischen Landwirtschaft als "zweitreifst" problematisch, denn gerade der Agrarsektor - fast 30 Prozent der Bevölkerung arbeiten in dem ineffizienten System von Kleinst-Landwirtschaften - ist das polnische Sorgenthema Nummer eins.

Zuverlässiger sind da die ökonomischen Zahlen: Laut Prognose der Europäischen Kommission von Ende Januar wird sich das Bruttoinlandsprodukt Ungarns im Jahr 1999 um 3,9 Prozentpunkte erhöhen, im Jahr 2000 gar um 4,5 Prozent (zum Vergleich Tschechien: plus 1,3 bzw. 2,5 Prozent). Gleichzeitig wird jedoch die Inflation um elf bzw. neun Prozentpunkte steigen. In Tschechien um acht Prozent.

Sehr integrationswillig ist die Budapester Börse. Sie sieht sich nur dann überlebensfähig, wenn sie sich einem europäischen Börsen-Netz anschließt, "nicht 1999, aber möglichst vor dem EU-Beitritt", erklärte Zoltan Pasci, Geschäftsführender Direktor der Wertpapierbörse Budapest. Mit der Frankfurter und Londoner Börse haben schon erste lose Gespräche stattgefunden. Der größte Markt für ungarische Wertpapiere sei London, sagt Pacsi; die via London getätigten Umsätze seien oft ähnlich hoch wie die in Budapest. Viele Papiere seien aber auch in Frankfurt oder Wien notiert.

Daß Ungarns Kapitalmarkt unter westlichen Analysten als emerging market gilt, stört den ungarischen Börsenchef insofern, als er diesen Sammelbegriff viel zu undifferenziert verwendet sieht. "Wir müssen den Vergleich nicht scheuen", findet Pasci. Er sieht seinen Markt und seine Institution "auf dem Niveau einiger westeuropäischer Börsen", wobei er "Griechenland und einige nordeuropäische Länder" nennt. Und das Budapester Bankwesen ist bereit, für das Brüsseler Wohlwollen seinen Preis zu zahlen. So verzichten die Ungarn freiwillig und vorauseilend auf die Anonymität der Sparbücher, die bisher bis zu einer Summe von einer Million Forint (knapp 8 000 Mark) garantiert war. Damit wird die etwas strengere Geldwäsche-Richtlinie der EU erfüllt. Möglich ist, daß schon ab dem kommenden Jahr Sparkonten nur unter dem Namen des Inhabers eröffnet werden können.

Auch die Politik macht sich für den Beitritt fit: Eine Reform des Wahlrechts und der Verwaltung soll das Land EU-administrabel machen. Derzeit hat Ungarn mit zehn Millionen Einwohnern 386 Parlamentssitze, angestrebt ist eine Zahl von 220 bis 250. Verschlankung ist darüber hinaus im Verwaltungsapparat angesagt. Ungarn ist in 19 Komitate und die Hauptstadt Budapest aufgeteilt. Die Regionen in der EU, die Fördermittel aus den Strukturfonds erhalten, sind größere Einheiten. Sollten in Ungarn ähnlich große Einheiten geschaffen werden, bedeutet das bei der geringen Größe des Landes eine Verringerung auf vier bis sechs Regionen.

Ein heikler Punkt vor dem EU-Beitritt: die politische Einbindung der Minderheiten, die derzeit keine garantierte Vertretung im Parlament haben. Dabei geht es um 800 000 Roma, 200 000 sogenannte Ungarndeutsche und mehrere Tausend Slowaken, Rumänen, Kroaten, Serben und Bulgaren. Insbesondere wegen der Roma übt Brüssel vehement Druck auf Budapest aus. In der europäischen Hauptstadt befürchtet man, daß von den zu 90 Prozent arbeitslosen ungarischen "Cigany" ein erklecklicher Anteil nach Westeuropa wandern könnte, wenn nach dem Beitritt die Grenzen geöffnet werden müssen. Erschwerend kommt hinzu, daß es in Ungarn keine einheitliche Roma-Vertretung gibt - verschiedene Kleingruppen liegen in Zank und Streit.

Wie man den magyarischen Bauern die Angst vor der EU-Konkurrenz nehmen kann, bereitet dem Hauptabteilungsleiter für EU-Integration im ungarischen Landwirtschaftsministerium, Laszlo Vajda, Kopfzerbrechen. "Die Lebensmittelindustrie", startet er einen Argumentationsversuch, "befindet sich ohnehin zu 60 Prozent bereits in ausländischer, vor allem westeuropäischer Hand, ähnlich der Lebensmittelhandel."

Seit neun Jahren seien von ausländischen Investoren acht Milliarden US-Dollar in die Lebensmittelindustrie gesteckt worden. Das EU-Niveau sei weitgehend erreicht, man benötige keine Übergangsfristen. Die ungarische Landwirtschaft werde mit knapp zwei Prozent des EU-Produktionswertes keine Marktstörungen hervorrufen - 55 Prozent des Agrarhandels würden bereits mit der EU abgewickelt, so Vajda.

Insgesamt 31 Themenbereiche hecheln die Verhandlungspartner EU und Ungarn seit März 1998 durch. Wann der große Tag des Beitritts für das kleine Land gekommen sein wird, ist noch völlig offen. Die Ungarn hoffen auf das Jahr 2002. Dennoch sind die Entscheidungsträger realistischer: "Ich fürchte", seufzt nach einer einschlägigen Expertenkonferenz ein ungarischer Wirtschaftsfachmann, der namentlich nicht genannt werden will, in einer Kneipe, "ich fürchte, daß noch viel Wasser die Donau herunterfließt, bis wir unsere Standards an jene der EU angleichen." Dann nippt er an seinem Bierglas. Das ist noch nicht EU-genormt.