Kein Holz für Schafe

Der supranationale Wettbewerbsstaat

Zur Rolle der Europäischen Union im Prozeß neoliberaler Restrukturierung.

Im Zeitalter der Globalisierung hat der Staat tendenziell ausgedient. Die Märkte haben das Sagen. Und Politik beschränkt sich auf die Exekution von Sachzwängen. So oder so ähnlich lautet zugespitzt die Diagnose, wie sie vielerorts der staatlichen Handlungsfähigkeit gestellt wird. Meist sagt dieser Befund jedoch mehr über den politischen Standpunkt des Betrachters aus als über die Sache selbst. Denn bei genauerem Hinsehen offenbart sich das Absterben des Staates als radikaler Funktionswandel.

Der Staat hat nie die Rolle des neutralen Mittlers gespielt, der soziale Interessen ebenso berücksichtigt hätte wie ökonomische. Von wenigen historischen Ausnahmen abgesehen, fungierte er schon immer als Garant der strukturell widersprüchlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Insofern unterscheidet sich die heutige Situation nicht grundlegend von den prosperierenden Jahrzehnten der Nachkriegszeit.

Neu ist jedoch das Ausmaß der Dominanz ökonomischer Interessen: Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts ist konsequenter denn je darauf bedacht, die internationale Wettbewerbsfähigkeit "seiner" Unternehmen zu stärken und das eigene Land als Standort für globales Kapital attraktiv zu machen. Um die zunehmende soziale Ungleichheit zu bekämpfen, greift er auf eine Mischung aus ideologischen, sozialpolitischen und repressiven Maßnahmen zurück. Er bildet somit das Terrain, auf dem die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in einer globalisierungsadäquaten Weise institutionalisiert werden. Joachim Hirsch hat hierfür vor einigen Jahren den Begriff "Wettbewerbsstaat" eingeführt (Hirsch 1995).

Wettbewerbsstaatlichkeit wird bislang vor allem dem Nationalstaat zugeschrieben: Hirschs Buch trägt den Titel "Der nationale Wettbewerbsstaat"; und die Rede vom "Standort Deutschland" suggeriert, daß es vor allem Nationalstaaten sind, die um mobiles Kapital konkurrieren. Dies kann insofern nicht verwundern, als der Nationalstaat tatsächlich und nach wie vor ein zentraler Ort ist, an dem allgemein verbindliche Entscheidungen getroffen werden und an dem folglich um die Durchsetzung von Interessen gerungen wird. Ob der DGB oder der BDI, ob der BUND oder die Atomwirtschaft - sie alle versuchen, ihren Anliegen primär über die nationalen Staatsapparate Geltung zu verschaffen. Daran ändert auch der ebenso populäre wie ideologische Abgesang auf die "nationale Steuerungsfähigkeit" nichts.

Unübersehbar ist jedoch, daß Wettbewerbsstaatlichkeit gerade in Westeuropa zunehmend supranationale Züge trägt. Dies gilt spätestens seit Mitte der achtziger Jahre, als die europäische Integration nach Jahren der Stagnation wieder an Fahrt gewann. Zwar wirkt die EU oberflächlich betrachtet noch immer wie eine Ansammlung streitsüchtiger Staatsoberhäupter, bürokratischer Ungeheuer oder machtloser Parlamentarier. Und der jüngste Konflikt um die Agenda 2000 schien den Eindruck zu bestätigen, daß es doch nur darum geht, mit dem geringstmöglichen Einsatz den höchstmöglichen Ertrag zu erzielen.

All dies sollte jedoch nicht den Blick darauf verstellen, daß der EU bei der weltmarktorientierten Restrukturierung der europäischen Gesellschaften eine entscheidende Rolle zukommt. Im folgenden geht es darum, die supranationalen Züge von Wettbewerbsstaatlichkeit in ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer aktuellen Bedeutung nachzuzeichnen.

Ausgangspunkt ist die vielzitierte Krise des Fordismus. Auch wenn sich über die oft schematische Verwendung des Fordismus-Begriffs streiten läßt, so markierte die Krise der Jahre 1974/75 doch einen entscheidenden Einschnitt in die Geschichte der kapitalistischen Gesellschaften: Die zunehmende Internationalisierung des Kapitals, die Turbulenzen im Weltwährungssystem, die 1973 den Übergang vom Fixkurs-System von Bretton Woods zu einem Regime flexibler Wechselkurse erzwungen hatten, oder das Phänomen der Stagflation - der Gleichzeitigkeit von Stagnation und Inflation - rissen die entwickelten kapitalistischen Länder jäh aus dem "kurzen Traum immerwährender Prosperität" (Lutz 1989). Die Annahme keynesianisch inspirierter Wirtschaftspolitiker, durch eine antizyklische Nachfragesteuerung die Krisenhaftigkeit kapitalistischer Entwicklung in den Griff zu bekommen, wurde von der Wirklichkeit eindrucksvoll widerlegt.

Mit der europäischen Integration hatte die Krise der siebziger Jahre zunächst nur insofern zu tun, als sie diese in eine mehrjährige Stagnationsphase stürzte. Krisenbewältigung fand vor allem im nationalen Rahmen statt. Die bundesdeutschen Sozialdemokraten etwa zogen, statt das Projekt Europa zu stärken, mit dem Slogan vom "Modell Deutschland" in den Bundestagswahlkampf 1976. Und die französischen Sozialisten bemühten sich noch zu Beginn der achtziger Jahre, die Krise mit einem spätkeynesianischen Alleingang zu überwinden.

Sackgassen nationaler Krisenbewältigung

Die nationalen Krisenbewältigungsstrategien waren jedoch nur mäßig erfolgreich. Sie trafen auf eine komplexe und widersprüchliche Interessenlage, die weder die bloße Fortsetzung keynesianischer Politik noch eine grundlegende Transformation unter neoliberalen Vorzeichen zuließ. Dies verdeutlicht ein Blick auf die Bundesrepublik, wo die divergierenden Interessen von Bundesbank, exportorientierten Unternehmen und Gewerkschaften der SPD-geführten Regierung das Leben schwer machten.

Die Freigabe der Wechselkurse, mit der 1973 das Ende des Bretton-Woods-Systems besiegelt worden war, hatte die Position der Bundesbank in den politischen Auseinandersetzungen deutlich gestärkt: Bislang war diese ebenso wie die anderen am Fixkurssystem beteiligten Notenbanken verpflichtet gewesen, die politisch festgelegten Kurse an den Finanzmärkten durch Stützungskäufe zu verteidigen. Da die deutsche Währung zuletzt unter ständigem Aufwertungs-, der US-Dollar hingegen unter Abwertungsdruck stand, mußte die Bundesbank Dollars gegen D-Mark aufkaufen. Dadurch erhöhte sich das Angebot an D-Mark und damit die Gefahr einer aus Sicht der Bundesbank nicht hinnehmbaren Inflationsrate. Die Wechselkurspolitik stand also in einem Zielkonflikt mit dem Streben nach Geldwertstabilität.

Dies änderte sich ab 1973: Mit dem Übergang zu einem Regime freier Wechselkurse war die Bundesbank der Verpflichtung enthoben, den US-Dollar durch Stützungskäufe gegen Abwertungstendenzen zu verteidigen. Sie konnte ihre Politik nun ganz am Ziel der Geldwertstabilität orientieren: Die institutionellen Voraussetzungen dafür waren geschaffen, daß ihre gesetzlich verbürgte Autonomie ihre volle politische Wirkung entfalten konnte.

Daß sich dies nicht sofort in der geldpolitischen Praxis niederschlug, lag sowohl an der konjunkturellen Situation als auch an den politischen Kräfteverhältnissen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wuchs in der Bundesrepublik 1974 nur um 0,3 Prozent.

1975 schrumpfte es sogar um 1,6 Prozent. Angesichts einer Inflationsrate von sieben (1974) bzw. sechs Prozent (1975) wäre aus Sicht der Bundesbank trotz der Wachstumskrise eine Politik strikter Inflationsbekämpfung angesagt gewesen. Dies wäre auch im Interesse der Geldvermögensbesitzer gewesen, deren Anteil am gesellschaftlich erzeugten Mehrwert sich bei hohen Zinsen erhöht hätte. Demgegenüber wäre jedoch das industrielle Kapital weiter unter Druck geraten: Hohe Zinsen verteuern die Investitionen. Gleichzeitig steigern sie den Außenwert einer Währung und verschlechtern dadurch die Exportaussichten.

Um die Interessen des industriellen Kapitals mit denen des Geldkapitals zu versöhnen, hätte das industrielle Kapital durch Lohnsenkungen bzw. eine Flexibilisierung von Löhnen und Arbeitsbedingungen entlastet werden müssen. Es wäre also nötig gewesen, die Last der Anpassung an die veränderten ökonomischen Bedingungen dem Faktor Arbeit aufzubürden (vgl. Reuten/Went 1999).

Eine entsprechende Politik war in den siebziger Jahren jedoch nicht ohne weiteres durchsetzbar, hätte sie doch die regierenden Sozialdemokraten in Konflikt mit ihrer gewerkschaftlichen Klientel gebracht. Und diese war - anders als in den folgenden Jahrzehnten - noch nicht durch zweistellige Arbeitslosenquoten geschwächt. Sie verfügte also noch über eine erhebliche Machtbasis - was sich unter anderem in den hohen Lohnsteigerungen ausdrückte, die sie im Anschluß an die Septemberstreiks von 1969 sowie vor dem Hintergrund des Wirtschaftswachstums in dieser Zeit den Arbeitgeberverbänden abgerungen hatte. Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hätte folglich bei einem Schwenk auf eine strikt neoliberale Angebotspolitik mit Legitimationsverlusten in großen Teilen ihrer Wählerschaft rechnen müssen.

Die widersprüchlichen Interessen von Gewerkschaften, exportorientierten Unternehmen sowie von Bundesbank und Geldvermögensbesitzern schlugen sich in einem ebenso widersprüchlichen Krisenmanagement nieder: Während einerseits noch mit keynesianischen Maßnahmen operiert wurde, gewannen andererseits monetaristische Elemente an Bedeutung. Für diese stand etwa die Einführung eines Geldmengenziels, mit dem die Bundesbank seit Dezember 1974 auf das Lohn- und Preisverhalten von Gewerkschaften und Unternehmen einzuwirken versuchte - in der Hoffnung, "die Anpassung an die von der Geldpolitik verfolgte stabilitätsorientierte Linie zu fördern, mögliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit der monetären Stabilisierungsbemühungen der Notenbank auszuräumen und eine widerspruchsfreie Abstimmung unter den einzelnen Teilbereichen der Wirtschaftspolitik zu erleichtern" (Deutsche Bundesbank 1989). Keynesianische Elemente dagegen fanden sich noch vereinzelt im "Programm stabilitätsgerechter Aufschwung", das die Bundesregierung ebenfalls im Dezember 1974 auflegte, oder in der Steuer- und Kindergeldreform von 1975.

In der Widersprüchlichkeit des Krisenmanagements, mit der auch andere Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft konfrontiert waren, drückte sich die konflikthafte Suche nach einem neuen nach-fordistischen Gesellschaftsprojekt aus. Es erwies sich als äußerst schwierig, diesem unter den vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat geprägten politischen Kräfteverhältnissen und institutionellen Bedingungen zum Durchbruch zu verhelfen. Einzig Großbritannien in der Thatcher-Ära bildete hier eine Ausnahme. Gleichwohl setzte sich auch auf der Insel der Neoliberalismus nicht zwangsläufig und reibungslos durch, sondern erst nach langen und harten Auseinandersetzungen.

Hier liegt denn auch die Ursache dafür, daß die europäische Option für relevante gesellschaftliche Gruppen in den achtziger Jahren an Bedeutung gewann: Die EG bot sich als ein Terrain an, auf dem die nationalen Machtblöcke um die Durchsetzung neoliberaler Reformen ringen konnten, ohne dabei auf ähnliche Widerstände und Legitimationsprobleme zu stoßen wie in den nationalstaatlichen "Arenen". Denn sie stellt eine besondere Form von Staatlichkeit dar, die sich von den repräsentativ-demokratischen Formen nationaler Staatlichkeit in Westeuropa unterscheidet. Ihre zentralen Apparate - Kommission und Ministerrat - sind den institutionellen und legitimatorischen Zwängen, denen sich nationale Parlamente und Regierungen ausgesetzt sehen, weitgehend enthoben.

Die innenpolitischen Auseinandersetzungen in den Mitgliedstaaten werden darüber hinaus durch die auf europäischer Ebene erstrittenen Entscheidungen erheblich beeinflußt. Der supranationale Staat wirkt gewissermaßen "wie ein sich dauernd vergrößernder Verschiebebahnhof. Auf dem Weg über Brüssel als Regulierungskomplex - das EG-Gebäude, ans Pentagon erinnernd, wirkt wie eine architektonische Metapher - erfolgt heute schon die Durchsetzung des anders nicht ohne weiteres Durchsetzbaren" (Narr 1990).

Nachteile in der Triadenkonkurrenz

Eine Vertiefung der europäischen Integration schien noch aus einem zweiten Dilemma nationaler Krisenbewältigung herauszuhelfen. Dieses lag in den spezifischen Wettbewerbsnachteilen westeuropäischer Unternehmen gegenüber ihren US-amerikanischen und japanischen Konkurrenten, die in der Zersplitterung des EG-europäischen Marktes wurzelten.

Zwar sah bereits der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes vor, die mit der Herstellung einer Zollunion 1968 schon ein gutes Stück vorangekommen war. Doch wurde der grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit in den siebziger und achtziger Jahren noch immer durch eine Reihe von nicht-tarifären Handelshemmnissen - unterschiedliche Verbrauchssteuern, technische Normen und Standards im Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz -, durch unterschiedliche Währungen oder durch eine auf den jeweils nationalen Markt konzentrierte Verkehrsinfrastruktur behindert.

Die Wettbewerbsnachteile, die sich hieraus für europäische Unternehmen ergaben, ließen aus deren Perspektive eine Vertiefung der Integration zu einer vordringlichen Aufgabe werden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Gründung des European Round Table of Industrialists (ERT) im Juni 1983 - einer Interessenvertretung von zunächst 17, heute über 40 führenden westeuropäischen Konzernen. Der ERT legte 1984 eine programmatische Schrift über die Notwendigkeit eines gemeinsamen europäischen Marktes vor. Es folgten weitere Veröffentlichungen zur Arbeitsmarktpolitik oder zur europäischen Verkehrsinfrastruktur, die signalisierten, daß die europäische Ebene als Aktionsfeld für wichtige Kapitalvertreter neue Bedeutung gewonnen hatte.

Bei der qua Amt und aus institutionellem Eigeninteresse an einer Vertiefung der Integration interessierten Europäischen Kommission trafen die Bemühungen der Konzernvertreter auf offene Ohren: Der ERT wurde als ein Verbündeter wahrgenommen, mit dessen Hilfe der Integrationszug auch gegen nationale Widerstände beschleunigt werden könnte. "These men are very powerful and very dynamic", so ein Berater der Kommission. "They seed us with ideas. And when necessary, they can ring up their own prime ministers and make their case" (Merritt 1986).

Die neue Integrationsdynamik

Die Gründung des European Roundtable of Industrialists symbolisiert die transnationale Neuformierung der westeuropäischen Klassenverhältnisse (vgl. Röttger 1997), deren Ursache in den konflikt- und konkurrenzbedingten Schwierigkeiten lag, die tiefe Krise der siebziger Jahre im nationalen Rahmen zu bewältigen. Mit der europäischen Orientierung wichtiger gesellschaftlicher Akteure entstand im Gegenzug die Grundlage dafür, daß der Integrationsprozeß nach Jahren der Stagnation wieder an Fahrt gewinnen konnte. Die künftige Richtung war dabei durch die treibenden Kräfte vorgegeben: Es ging um die weltmarktorientierte Restrukturierung der europäischen Gesellschaften.

Die beiden spektakulärsten Integrationsschritte seit Mitte der achtziger Jahre waren die Einheitliche Europäische Akte von 1986, die die Vollendung des europäischen Binnenmarktes bis zum 1. Januar 1993 vorsah, und der Vertrag von Maastricht (1992), der den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion ebnete. Zuvor, 1979, war mit dem Europäischen Währungssystem (EWS) eine In-stitution geschaffen worden, die über feste Wechselkurse die negativen Auswirkungen von Kursschwankungen auf den innereuropäischen Güter- und Kapitalverkehr zu begrenzen versuchte.

Aber auch in anderen, weniger öffentlichkeitswirksamen Bereichen gab es erhebliche Fortschritte: In der Forschungs- und Technologiepolitik, der durch die Einheitliche Europäische Akte erstmals eine eigene rechtliche Grundlage geschaffen wurde, wuchs die Europäische Union zum zentralen staatlichen Akteur heran, der die Entwicklung industriell verwertbarer Schlüsseltechnologien aktiv vorantrieb (vgl. Grande 1996). Und der europäische Regionalfonds, der Anfang der siebziger Jahre zur partiellen Refinanzierung nationaler Strukturpolitik konzipiert worden war, entwickelte sich im Zuge mehrerer Reformen zu einem eigenständigen Modernisierungsinstrument, das die nationalen Regionalpolitiken unter starken Anpassungsdruck setzte.

Die neugewonnene Dynamik der europäischen Integration bewirkte zweierlei. Zum einen beschleunigte sie den Prozeß grenzüberschreitender Kapitalkonzentration: Auf die Zunahme der Konkurrenz reagierte das Kapital in vielen Bereichen mit der Übernahme ausländischer Konkurrenten. Zwar findet die Mehrzahl aller Fusionen und Übernahmen bis heute im nationalen Rahmen statt. Doch ist deren Anteil fallend, während der Anteil grenzüberschreitender Unternehmenskonzentration steigt: Die Bildung von "European Champions" - international führenden europäischen Konzernen - hat seit 1986 ebenso an Bedeutung gewonnen wie die Übernahme von bzw. die Fusion mit westeuropäischen Firmen von Unternehmen aus Drittstaaten (vgl. European Commission 1996).

Zum anderen disziplinierten die auf europäischer Ebene geschaffenen "Sachzwänge" die Gewerkschaften und andere (potentiell) oppositionellen Akteure in den nationalen Auseinandersetzungen. Der durch das Binnenmarkt-Projekt in vielen Branchen verschärfte Konkurrenzdruck verlangte den Beschäftigten höhere Zugeständnisse an die Kapitalseite ab. Ähnlich wirkten das EWS und später die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags: Indem sie die geld-, fiskal- und lohnpolitischen Spielräume auf nationaler Ebene verengten, bürdeten sie die ökonomischen Anpassungslasten den Arbeitsmärkten und Sozialsystemen auf.

Die EU leistete so einen entscheidenden Beitrag zur Durchsetzung neoliberaler Reformen: Sie half, die Rentabilitätsbedingungen im produzierenden Gewerbe zu verbessern - mit anderen Worten: den Fall der Profitrate aufzuhalten - und dadurch zu Ungunsten des Faktors Arbeit die Interessen von industriellem und Geldkapital zu harmonisieren. Eine restriktive Geldpolitik, die über einen stabilen Geldwert die Interessen von Vermögensbesitzern bedient, ist nämlich nur dann auch mit den Interessen des industriellen Kapitals vereinbar, wenn dieses die höhere Zinsbelastung anderweitig, sprich: über flexible Löhne und Arbeitsbedingungen, kompensieren kann. Und daß sich diese europaweit durchsetzen, ist wesentlich eine Folge der durch die Vertiefung der Integration geschaffenen Anpassungszwänge.

Hierin liegt die spezifische "Leistung" europäischer Wettbewerbsstaatlichkeit: Sie institutionalisiert die durch hohe Arbeitslosigkeit und internationalen Konkurrenzdruck produzierten Anpassungszwänge auf eine Weise, daß die Interessen unterschiedlicher Kapitalgruppen harmonisiert werden und die internationale Wettbewerbsposition der europäischen Wirtschaft eine Stärkung erfährt.

Konflikte als Katalysatoren der Integration

Dieser Grundzug europäischer Staatlichkeit ist dabei keineswegs das zwangsläufige Ergebnis einer gleichsam natürwüchsigen Entwicklung. Vielmehr ergibt er sich gerade aus der Widersprüchlichkeit des Integrationsprozesses, in dem verschiedenste Akteure um die Durchsetzung ihrer Interessen kämpfen. Als etwa 1979 auf Initiative des französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing und des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt das Europäische Währungssystem geschaffen wurde, lag dies zwar im Interesse exportorientierter Unternehmen, nicht aber unbedingt in dem der Bundesbank. Denn nur wenige Jahre nach dem Ende des Währungsystems von Bretton Woods fand diese sich nun erneut in einem Wechselkursverbund wieder, in dem sie gegebenenfalls durch Stützungskäufe schwächerer Währungen ihre eigene Anti-Inflationspolitik unterlaufen mußte.

Faktisch gelang es der Bundesbank dann zwar, ihre restriktive Politik auch den europäischen Nachbarn aufzuzwingen. Genauer gesagt bildete sich eine Interessenkoalition zwischen der Bundesbank und den Notenbanken der anderen EWS-Mitglieder heraus. Diese akzeptierten die von der bundesdeutschen Geldpolitik geschaffenen Zwänge als willkommenes Instrument, um ihre eigene Position in den innenpolitischen Auseinandersetzungen zu stärken. Das Kalkül Helmut Schmidts, "mittels fester Wechselkurse zwischen den EWS-Teilnehmerstaaten indirekt für größere ökonomische Disziplin der Regierungen in der EG" zu sorgen ( Die Zeit, 22. April 1988), ging also im wesentlichen auf.

Auch dem Vorhaben einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) begegnete die deutsche Notenbank zunächst mit Skepsis: Sie fürchtete, die harte D-Mark gegen eine weiche Gemeinschaftswährung eintauschen zu müssen. Schließlich beschloß sie aber, auf den Zug aufzuspringen und die Richtung zu bestimmen: Erfolgreich setzte sie sich dafür ein, daß die Aufnahme in die WWU von der Erfüllung mehrerer Konvergenzkriterien abhängig gemacht wurde. Ihre anfängliche Skepsis schlug in das Bestreben um, die monetäre Integration mit umso stärkerer stabilitätspolitischer Konsequenz voranzutreiben.

Die Europäische Zentralbank (EZB) wurde nach dem Muster der Bundesbank konstruiert und auf das Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Auf diese Weise gelang es, sowohl die Unterstützung des Geldkapitals für das Projekt Wirtschafts- und Währungsunion zu gewinnen, als auch das industrielle Kapital bei der Stange zu halten. Denn die Kosten, die diesem durch eine restriktive Geldpolitik entstehen, wurden auf andere gesellschaftliche Gruppen abgewälzt: "Die längerfristig erwarteten Wohlfahrtsgewinne durch die Währungsunion", so heißt es in einem Papier der Bundesbank, "werden sich nur realisieren lassen, wenn sich insbesondere Lohn- und Sozialpolitik rasch und umfassend auf die neuen Gegebenheiten einstellen. Gerade vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit in den meisten Teilnehmerländern ist eine hinreichend flexible Reaktion der Güter- und Arbeitsmärkte auf unterschiedliche Produktivitätsentwicklungen und gravierende Marktveränderungen unverzichtbar" (Deutsche Bundesbank 1998).

Risse im wettbewerbsstaatlichen Gebäude

Wenn die europäische Wettbewerbsstaatlichkeit aber wesentlich auf der Stabilisierung oder auch Verschärfung sozialer Ungleichheit zu beruhen scheint, dann deutet dies auf einen Riß im europäischen Gebäude hin, der dieses über kurz oder lang zum Einstürzen bringen könnte. Dies ist in der Tat nicht ganz auszuschließen, vor allem nicht in solchen Staaten und Regionen, die gegenüber den europäischen Metropolen einen deutlichen Produktivitätsrückstand aufweisen: Sie werden die Folgen einer Wirtschafts- und Währungsunion ohne eine mit Umverteilungskompetenzen ausgestattete politische Union am deutlichsten zu spüren bekommen.

Dennoch sprechen mehrere Argumente gegen die Wahrscheinlichkeit einer existenzbedrohenden Krise der WWU. Da sind zum einen die Nationalstaaten. Deren Fähigkeit zu materiellen Zugeständnissen wird zwar durch die Verpflichtung, mittelfristig einen ausgeglichenen oder sogar überschüssigen Haushalt anzustreben, eingeschränkt. Nach wie vor verfügen sie jedoch über ein erhebliches Repertoire an ideologischen und repressiven Disziplinierungsinstrumenten. So ist zu erwarten, daß möglicher Widerstand gegen die neoliberale Dominanz in Europa sowohl polizeistaatlich eingedämmt als auch als Ausdruck sozialer Gegensätze dethematisiert und z.B. durch rassistische Diskurse überlagert wird. Das Problem sind dann nicht mehr die neoliberalen Anpassungsmaßnahmen, sondern die Flüchtlinge oder MigrantInnen, die das "volle Boot" zum Kentern bringen.

Zum anderen verfügt die EU selbst zwar nicht über die Möglichkeit eines interregionalen Finanzausgleichs zugunsten der ärmeren Staaten und Regionen. Mit dem Kohäsionsfonds und den Strukturfonds besitzt sie jedoch ein Instrument zum Ausbau der Infrastruktur und zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. In den ärmeren Regionen entstehen Bündnisse unter Beteiligung von Kommunen, der örtlichen Wirtschaft und der Gewerkschaften, die die spezifischen Vorteile des eigenen Standortes in der interregionalen Konkurrenz zu profilieren versuchen. Auch dadurch werden soziale Gegensätze dethematisiert, oppositionelles Potential wird auf die Standortlogik verpflichtet.

Zum dritten ist nicht auszuschließen, daß die Mitgliedstaaten der EU einer allzu offensichtlichen Schieflage mit der Schaffung von symbolischen oder reellen Ausgleichsmechanismen begegnen, die einen begrenzten Einkommenstransfer von den reichen in die armen Länder bzw. Regionen ermöglichen.

Sollte schließlich keiner der drei Mechanismen greifen, dann bestünde die Alternative wahrscheinlich weniger zwischen einem Europa des Kapitals und einem sozialen Europa als zwischen einem Europa des Kapitals und einer Renationalisierung unter chauvinistischen Vorzeichen - eine äußerst unerfreuliche Vorstellung. Für die europäische Linke bedeutet dies, daß sie auf absehbare Zeit von einer Verschärfung sozialer Gegensätze nicht neuen Einfluß erhält, sondern sich gerade dann auf verstärkte Abwehr gegen Rechts einstellen muß.

Neben den inneren Widersprüchen könnten auch die Außenbeziehungen das neoliberale Europa in Schwierigkeiten bringen. Das gilt vor allem für das Verhältnis zu den USA. Sowohl die europäische als auch die US-amerikanische Zentralbank fühlen sich primär dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Es ist nicht auszuschließen, daß es zwischen den USA und der EU zu einem Wettrennen um die stabilste Währung kommt. Dies aber würde mit destabilisierenden Vermögensumschichtungen und entsprechenden Wechselkursschwankungen einhergehen.

Vermutlich würde jedoch auch damit nicht die finale Krise des neoliberalen Kapitalismus eingeläutet. Vielmehr wäre damit zu rechnen, daß die Lafontainesche Idee der Wechselkurszielzonen wieder auf die Tagesordnung käme und von transnationalen Konzernen, denen Währungsturbulenzen Kosten verursachen, Unterstützung erführe. Für ein radikaldemokratisches und soziales Europa stehen die Chancen derzeit jedenfalls denkbar schlecht. Dennoch bleibt es die vordringliche Aufgabe der Linken, dieses zu reflektieren und an den möglichen Bruchstellen des neoliberalen Europa für die Verwirklichung des sozialen Europas zu kämpfen.