Niederlage? Diskussion!

Zwischen institutioneller Konterrevolution und Emanzipation - Italiens Linke diskutiert ihre Zukunft

Um sinnvoll politisch intervenieren zu können, muß man eine Vorstellung davon haben, wie sich die Dinge entwickeln können. Doch selbst der tiefste Einblick und noch das feinste Gespür für perspektivische Veränderungen führen nicht zwangsläufig dazu, diesen Umwälzungen auch gerecht zu werden.

In Italien etwa hat man - ausgehend von den Akkumulationstheorien der französischen ƒcole de la Régulation und auf den reichen Erfahrungsschatz des Operaismus zurückgreifend - immerhin ein analytisches Instrumentarium weiterentwickelt, das die gesellschaftlichen Übergänge von der fordistischen Industrieordnung zur postfordistischen Produktionsweise sehr anschaulich beschreiben kann. Nach und nach wurde dieses Erklärungsmuster von fast allen, selbst den rückständigsten Strömungen der Linken, aufgegriffen.

Allein, die Auflösungstendenzen der Repräsentanz haben auch in Italien auf die traditionellen politischen Vermittlungsorgane wie Gewerkschaften, Parteien und andere öffentliche sozialpolitische Organisationsformen der sogenannten Zivilgesellschaft durchgeschlagen. Diese konnten sich in Italien, trotz der durchgreifenden Umgestaltung seiner Industrie- und Parteienlandschaft - und damit der gesellschaftlichen Beziehungen -, vielleicht etwas länger als anderswo behaupten. Nun ist man dort, obwohl über manche theoretische Gewißheit verfügend, dennoch ratlos.

Konnten linke Wahlvereine, vor allem die Traditionspartei KPI, in den siebziger Jahren ein Wählerreservoir von gut vierzig bis beinahe fünfzig Prozent mobilisieren, so kommen heute - zieht man nach den verheerenden Schlappen bei den jüngsten Europa- und Kommunalwahlen Bilanz - alle inzwischen existierenden Linksparteien zusammengenommen gerade mal auf zwanzig Prozent der Stimmen. Sie befinden sich damit auf einem historischen Tiefstand, und dies zu einer Zeit, in der überall in Europa, Italien mit seiner Mitte-Links-Regierung inbegriffen, Sozialdemokraten an der Macht sind und technokratische Marktanpassungspolitik betreiben. Womit auch schon ein Grund benannt ist, der erklärt, warum den Linken die davon betroffenen Wähler davonlaufen. Tatsächlich war die sensationell hohe Wahlenthaltung der Linkswähler für den Sieg der Rechten und der gewerkschaftsfeindlichen Radikalen Partei und damit für das Wiedererstarken Berlusconis ausschlaggebend.

Der betagte Mitbegründer der linken Tageszeitung il manifesto, Luigi Pintor, sah sich deshalb genötigt, in einem "Brief an die Freunde" auf seine gewohnt knappe, aber dennoch erschöpfende Art die "radikale Linke" aufzufordern, jetzt vom Karren der Regierung abzuspringen, sofern sie dies nicht schon längst getan hat. Sie solle in einem Diskussionsprozeß Luft schöpfen und vielleicht auch zu einer Übereinkunft kommen, wie es auf seiten der Linken alternativ zur Modernisierungspolitik und in Opposition zur Regierung weitergehen kann.

Wer dazu einen naheliegenden Vergleich zur Haltung Oskar Lafontaines ("Das Herz schlägt immer noch links" etc.) ziehen mag, erkennt sogleich den Unterschied: Die auf Personen zugeschnittene Einengung gesellschaftlicher Debatten ist in Italien, vielleicht wegen des oben erwähnten Beharrungseffekts, nicht ganz so fortgeschritten wie hierzulande. Und deshalb spiegeln die Antworten der Angesprochenen, die seit Wochen auf den Seiten von il manifesto abgedruckt werden, kollektive Befindlichkeiten italienischer Linker wider, die sehr aufschlußreich sind.

Es gab darunter natürlich Auffassungen, die sich von einer Neuauflage keynesianischer Verteilungspolitik im Rahmen des bestehenden Systems Chancen für eine mögliche Alternative ausrechnen - wie die von Rifondazione Comunista. Oder solche, die den Dissens der linken oder, wenn man so will, sozialdemokratischen Basis mit den liberalistischen Entscheidungen ihrer Regierungsparteien weiterhin als "linker Flügel, der Druck ausübt" organisieren wollen und die deshalb der "Provokation" Pintors, von der Staatslinken an der Regierung abzulassen, nicht sogleich nachkommen wollen (linke PDS). Es gab viele "korrekte" Antworten guter Parteisoldaten, an denen abzulesen war, daß sie wohl mehr an der Ausrichtung ihrer jeweiligen Gruppierung als an einer wirklichen Übereinkunft interessiert sind.

Aber es gab auch die Stellungnahme des linksradikalen Poeten Ivan Della Mea, der klarstellte, daß es sowohl mit der Linken und ihren Parteien als auch mit dem Politikmachen, das bislang alle emanzipatorischen Bewegungen massakriert hat, nicht mehr wie bisher weitergehen kann und darf. Ihm assistierte der Turiner Soziologe Marco Revelli, der unterstrich, daß es auch mit Appellen an die Einheit oder mit simplen Verhaltensänderungen bei weitem nicht getan ist. Die Krise und die Niederlage der Linken hätten sich lange im voraus angekündigt.

Ihre tiefen Ursachen lägen, so Revelli, in der Ausformung unterschiedlichster Figuren in der Erwerbsarbeit, deren Bedürfnisse die sozialpsychologisch nicht bewanderte Linke nie so recht verstanden habe. Die habe sich folglich aus ihrer sozialen Vermittlerrolle verabschiedet und zur Funktion eines "abstrakten Gesetzgebers" aufgeschwungen. Der stelle nun Regeln auf, die von außen und von oben herab einen sozialen Körper normieren und organisieren würden, mit dem der "abstrakte Gesetzgeber" sich nicht identifizieren könne und von dem er außerdem dazu nicht beauftragt sei.

Heute gehe es nicht mehr darum, Programme aufzustellen. Bevor überhaupt wieder über Politik gesprochen werden könne, müsse erst einmal "von unten" angefangen werden, den Subjekten der im Werden begriffenen "künftigen Gesellschaft" in ihrer ganzen Zerrissenheit und Vielfältigkeit zum Bewußtsein von sich selbst zu verhelfen und den Verlust an "öffentlichem Raum" wieder wettzumachen, in dem sich kollektive Subjekte erst als solche gegenübertreten und organisieren können. Bei einer solchen Anstrengung, die als erneute Herstellung von Gesellschaft begriffen werden kann, seien die paar Aktivisten aus der Vergangenheit, an die sich Pintors Appell ja hauptsächlich richtet, eine nicht hinreichende, armselige Kraft.

Diese implizierte Absage an die "institutionalisierte Politik" mag wiederum Rossana Rossanda nicht recht überzeugen. Gerade weil sich in Italien eine institutionelle Konterrevolution in der beinahe täglich zu erlebenden Rücknahme sozialer Errungenschaften vollziehe - etwa im Arbeitsrecht - und nicht marktkonforme Ansichten und Lebensformen an den Rand gedrängt würden, dürfe diese Ebene der Auseinandersetzung nicht brach liegengelassen werden.

Zudem würde sich die "Zivilgesellschaft" immer dann robust zu Wort melden, sobald, wie in Mailand geschehen, irgendein Juwelier von einem Kriminellen ermordet wird - während die alltäglichen, den Arbeitsbedingungen geschuldeten Todesfälle beim Bau oder in den Werften niemanden mobilisieren. Und was den vielgenannten, von der Linken vernachlässigten tertiären Sektor angehe, in dem sich die Arbeit angeblich selbst befreie, indem sie mithilfe der fortgeschrittenen Technologien massenhaft individuelle oder assoziierte Formen der selbständigen unternehmerischen Arbeit annimmt: Sei dessen Bestand etwa nicht von notwendiger Schwarzarbeit und dem Verlangen nach institutioneller Förderung gekennzeichnet? Ein Verzicht auf Politik und institutionelle Regelungen, wie von Revelli u.a. gefordert, sei also keineswegs angemessen.

Einen neuen Anlauf zur (Selbst-)Untersuchung wollen dagegen die Centri Sociali des Nordostens unternehmen. Sie wollen sich mit der Frage beschäftigen, wie sich der im Postfordismus erreichte Zustand kooperativer Arbeit auch in eine politische Organisation umsetzen läßt. Das variable Verhältnis von Arbeit und Nichtarbeit, die Existenzgeldforderung, die unbekannten Flecken auf der Landkarte des tertiären Sektors - all das ist bereits, ganz konform mit Revellis Forderung, ihr Untersuchungsgegenstand. Deshalb verwerfen sie ebenfalls Pintors Vorschlag eines "Forums der Linken", da mit diesem, ihrer Ansicht nach, den neuen, ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Akteuren und Formen der prekären Arbeit nicht Rechnung getragen werde.

Die Debatte geht weiter. In ihr schält sich langsam heraus, daß es nicht mehr allein darum gehen kann, der linken Wahlenthaltung mit dem Gespenst der Rechten Mores zu lehren. Es geht auch nicht nur darum, die eigenen theoretischen Texte zu begreifen und mit Verspätung wahrzunehmen, daß ein Kampfzyklus abgelaufen ist. Auf dem Spiel steht vielmehr die Existenzberechtigung der radikalen Linken insgesamt. Vielleicht ist es die Frage nach deren Auflösung oder aber nach deren Erneuerung, die gerade auf den Seiten von il manifesto diskutiert wird.