German Psycho

Die 78er gibt es eigentlich nicht, aber mitunter schreiben sie noch Romane wie "Deutsche Einheit" oder "Alle oder keiner".

Was eine Generation jenseits der rein biologischen Zugehörigkeit zu den entsprechenden Jahrgangskohorten ausmacht, fragte Karl Mannheim in den Zwanzigern und kam zu dem naheliegenden Schluss, dass identitätsstiftende Ereignisse für die Herausbildung einer Generationengestalt vonnöten seien. Tatsächlich scheint es für manche heutige Fortysomethings ein echtes Identitätsproblem darzustellen, nie wirklich Teil einer Jugendbewegung gewesen zu sein. Daher auch das Label "78er", das auf kein konkretes Ereignis, sondern auf ein zehnjähriges Jubiläum anspielt.

Erstmals in die Arena geworfen hat es anscheinend der heutige Spiegel-Redakteur Reinhard Mohr, der die 78er und damit sich selbst im gleichnamigen Buch am Anfang der Neunziger als "Zaungäste" beschrieb: zu jung für 1968, zu alt für Punk, immer irgendwo dazwischen und am Rande. Eine Zwischengeneration, die gerne und viel leidet, hauptsächlich darunter, dass es sie eigentlich überhaupt gar nicht gibt. Literarisch hat sie Michael Politycki zu reanimieren versucht, vor allem, um sich selbst zum Sprachrohr zu machen und seinen "Weiberroman" (1997) zu pushen.

Sein Versuch, über bestimmte musikalische Referenzen doch noch eine Generationengestalt im Sinne Mannheims zu konstruieren, trug ihm die Replik von Thomas Meinecke ein, der sich selbst den betreffenden Jahrgängen zurechnet: selber schuld, wenn er, Politycki, früher solche Scheißbands gehört habe, er selbst, Meinecke, habe ganz andere gehört und wolle im Übrigen von einer gemeinsamen Generationenzugehörigkeit mit Politycki verschont bleiben.

Irgendwie hat der ganze Disput um die 78er etwas leidig Verfahrenes. Da der Begriff aber nun einmal in der Welt ist, lässt sich vielleicht etwas damit anstellen. Beispielsweise kann man zwei Romanen zu Leibe rücken, die derzeit auf dem Markt sind: "Alle oder keiner" von Ulrich Peltzer und "Deutsche Einheit" von Joachim Lottmann. Beide Autoren sind Jahrgang 1956 und damit eindeutig als 78er zu identifizieren. Ihre Protagonisten ebenfalls, auch wenn Peltzers "Bernhard" ein wenig jünger ist; bei Lottmann ist es schlicht "Lottmann".

In beiden Büchern ist Berlin der Schauplatz, um das Jahr 1995 herum. Beide Helden streifen durch das Post-Mauerfall-Ambiente, machen sich ihre Gedanken, lernen Frauen kennen, gehen auf Konzerte, der eine zu Hole, der andere zu Atari Teenage Riot. Klingt alles weitgehend identisch, und doch könnten die Bücher kaum unterschiedlicher sein.

Peltzer ist so etwas wie der Stadtschreiber von Kreuzberg, "Alle oder keiner" bereits der dritte Roman, in dem er sich als stiller Chronist seiner Generation betätigt. Wie der Titel andeutet, geht es ihm nicht um das spektakuläre Einzelschicksal, sondern um repräsentative Lebensentwürfe, um Ideale, die von den Zeitläuften unterspült werden und um die paar prägenden Ereignisse, die doch so etwas wie eine Kohärenz in den Köpfen seiner Altersgenossen erzeugt haben, kurz: um das Abtropfgewicht von 1978.

Die Eröffnungsszene führt auf eine Demonstration von Separatisten in Spanien. Die Demo als Naturgewalt und Initiationsritus - ganz ähnliche Massenszenen gibt es etwa bei Michael Wildenhain oder F.C. Delius - scheint ein Stereotyp dieser Art von Generationenliteratur zu sein: "Eine Unruhe an den Rändern, die sich atmosphärisch fortpflanzt, spielte die Rolle des Vorboten, wie Fall oder Steigen des Luftdrucks, es entstehen Wirbel, kaum merklich anfangs, und bringen das Gleichgewicht des Raumes durcheinander, als beginne er zu kippen, balle sich zusammen." So klingen die Stahlgewitter der 78er, etwas elegisch-verquast, und lieber ein paar Worte zu viel als zu wenig, damit auch die schwachen Schüler mitkommen. In weiteren Sequenzen erleben wir den Schock über die Bilder von Seveso und Chile, den Helden, wie er im Gerangel der K-Gruppen die Massen mit einer Sponti-Rede agitiert. Aber das sind alles Rückblenden.

Heute hat Bernhard sich nach einer Trennung in einer Kreuzberger Fabriketage eingemietet und kauft Wein "in der Preisklasse so um fünfzehn bis zwanzig Mark", denn "mehr für eine Flasche Wein zu zahlen geht mir irgendwie gegen den Strich". Der Vorsatz, den "Zusammenhang von Irresein und Unterdrückung" zu knacken, wird in seinem befristeten Job in der Forensik täglich kompromittiert. Aber auch damit hat er sich arrangiert. Was bei aller gediegenen Langeweile mitunter dennoch fasziniert, ist die Akribie, mit der Peltzer das wenig ereignisreiche Leben seines Helden und die schleichenden Veränderungen in seiner Umgebung schildert - ein Versuch über die Midlife Crisis, ohne sie beim Namen zu nennen, nur unterbrochen von gelegentlichen Ausflügen in die Jugendkultur. Das Digital Hardcore Konzert ersetzt die Demo und bleibt bei aller Sympathie ähnlich unverstanden. Bloß nichts riskieren!

Ganz anders Lottmann, respektive "Lottmann". Ausgerüstet mit einem Stipendium, das ihm Freunde zugeschanzt haben, ist er nach Berlin gekommen, um endlich den großen Wenderoman abzuliefern, in erster Linie aber, um die Stadt volley zu nehmen, und den gesamten subventionierten Literaturbetrieb am besten gleich mit.

Als literarischer Hasardeur und intellektueller Stuntman stürzt er sich in die Berliner Kulturszene, mit dem festen Vorsatz, aufzumischen und anzuecken. Den unausgesprochenen Generationenvertrag der 78er hat er zur erklärten Kampfansage gewendet. Stattdessen macht er sich an jüngere Jahrgänge heran, die in seinen Augen sexuell - die Kellnerin Maren Born aus Marzahn - und literarisch - Christian Kracht! Douglas Coupland!! Bret Easton Ellis!!! - mehr zu bieten haben. Als programmatischen Verbündeten aus seiner Generation fällt einem vielleicht noch Rainald Goetz ein, während das kompromittierende Namedropping mehr an die kalkulierten Indiskretionen von Jörg Schröder erinnert.

Wo Peltzer skrupulös verfährt, ist Lottmann skrupellos, schreckt vor keinem Pauschalurteil zurück und landet damit durchaus ein paar kurzweilige, wenngleich billige Treffer. Berlin? "Berlin ist eine darniederliegende strukturschwache Region, ungefähr wie das Saarland." Die zeitgenössische deutsche Literatur? "Es war der technisch rückständigste Bereich der Gesellschaft. In einem ganz neutralen Sinne war die deutsche Literatur das letzte." Die Literaten? "Es waren Funktionäre, die auf fein taten, und stilistische Fleißarbeit ablieferten, verfasst im Schneckentempo."

Während Peltzers Bernhard "fast nie" an Sex denkt, wenn er das erste Mal einer Frau begegnet, tut Lottmanns "Lottmann" genau dies, und zwar ständig. Sein delirierender Vereinigungsrausch in Tateinheit mit einem ungehemmten Machotum führt dazu, dass sich die im Titel annoncierte "Deutsche Einheit" gegen Ende des Buches als Vergewaltigung vollzieht. Auch wenn man wohlwollend hieraus eine bemühte Reverenz an Bateman aus Ellis' "American Psycho" lesen kann, wird spätestens hier deutlich, worum es Lottmann geht: Nicht darum, den großen Wenderoman, sondern den großen Anti-PC-Roman abzuliefern.

Warum sonst lässt er "Lottmann" zwanghaft in jeden Fettnapf steigen, warum lässt er ihn sich selbst als Sexisten bezeichnen - der er zweifellos ist - und die rechtsextreme Gewalt im Osten als Erfindung von Streetworkern hinstellen? Nur um dann sofort auf die Metaebene auszuweichen: "Dies zu sagen ist natürlich politisch über alle Maßen unkorrekt. Man sieht die Kritiker förmlich vor sich, wie sie sich auf die Stelle stürzen, den Bleistiftstummel im Mund, um die herrlich falsche Stelle gleich zu unterstreichen, zum späteren genüsslichen Zitieren."

Des gewitzten Verweises - "Daher sage ich hiermit feierlich: Kein Autor hat's gesprochen, o nein, ein Ich-Erzähler war's, und von dem distanziert sich der Autor postwendend und mit gebotener Entrüstung." - hätte es gar nicht bedurft, um das Manöver zu durchschauen. Wenn man noch Lust hätte, könnte man sogar fragen, ob der Autor nicht doch für seinen Ich-Erzähler haftbar gemacht werden muss, zumal er so energisch für literarische Aufrichtigkeit eintritt. Aber hat man die noch? Dafür kommt das Buch einfach drei Jahre zu spät. Die Campus-Revolution der Political Correctness, die in Deutschland ohnehin nur als Konterrevolution stattgefunden hat, ist längst im Sande verlaufen, und Lottmann darf noch einmal nachkarten. Keine Ursache.

Bleibt am Schluss eigentlich nur noch die Frage, ob die Political Correctness eine Erfindung der 78er gewesen ist, vorausgesetzt, dass es sie überhaupt je gegeben hat. Wen jetzt, die 78er oder die Political Correctness? Beide.

Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Haffmans Verlag, Zürich 1999, 382 S., DM 39
Ulrich Peltzer: Alle oder keiner. Ammann Verlag, Zürich 1999, 254 S., DM 36