Am Strand von Merkala

Am 18. November ist der US-amerikanische Schriftsteller Paul Bowles in Tanger gestorben

Ich habe von niemand die Telefonnummer, weil ich kein Telefon habe. Ich schreib' sie nie auf. Ich hasse es sowieso, am Telefon mit jemandem zu sprechen.

Aber Sie hatten doch einmal ein Telefon hier, nicht?

Ja.

Und dann?

Ich riß es aus der Wand. Es funktionierte nicht; fünfzehn Monate lang war die Leitung tot. Sie sollten es reparieren - dann gingen sie weg, und es funktionierte immer noch nicht. Die konnten das nicht. Schließlich haben sie zugegeben, daß es unmöglich sei. Irgendwo außerhalb der Wohnung war die Leitung unterbrochen. Das wußte ich nicht. Niemand sonst hier hatte ein Telefon. Niemand lebte in den Wohnungen. Manchmal war mein Apartment das einzige, das bewohnt war; alle anderen standen leer. Sie vermieteten sie nicht. Marokkanern schon gar nicht. Nur Europäern. Aber die meisten Europäer wollten nicht in so kleinen Wohnungen leben, sie wollten mehr Platz haben. Also mieteten sie diese Wohnungen nicht.

Heute leben hier lauter Marokkaner. Nach der Unabhängigkeit wechselte der Eigentümer, und sie mußten auch an Marokkaner vermieten. Die Unabhängigkeit hat eine Menge für die Demokratisierung bewirkt. Seit der Unabhängigkeit ist Marokkanern der Zutritt zu Restaurants gestattet. Sie können dort hingehen und essen. Früher durften sie das nicht. Bevor Marokko unabhängig wurde, durften sie nur in marokkanische Kneipen gehen, die größeren Restaurants aber wurden alle von Europäern geführt ..., von Franzosen.

Ich versuchte, Ahmed Yacoubi (Bowles' langjähriger Lebensgefährte; Red.) mit in eines der Restaurants zu nehmen. Ein paar Mal haben sie es zugelassen. Dann kam ein Mann und sagte: Il ne peut plus entrer ici, Monsieur. Ich fragte: Warum nicht? Und seine Frau ereiferte sich und sagte: Il nous est hostile! Sie durften auch keine Hotels betreten. Wenn sie ins El Minzah wollten, wurden sie aufgehalten. Und Bars zu besuchen, war ihnen ohnehin untersagt. Sie durften nur in ihren eigenen Cafés verkehren, unten in der Medina. Marokko war eine Kolonie. Die Marokkaner waren Unterworfene, minderwertig.

Wie konnten Sie bloß in einem Land mit einer solchen Politik und solchem Rassismus leben?

Was hätte ich daran ändern können?

Sie hätten weggehen können.

Weggehen? Nein, ich schrieb darüber. Ich sagte, daß es ungerecht war. Ich fand das indiskutabel, und ich war entrüstet. Aber warum hätte ich fortgehen sollen? Sie mochten mich ja auch nicht. Ein amerikanischer Gesandter von hier erzählte mir einmal, daß jedesmal, wenn ich im Süden Marokkos unterwegs war, die Franzosen in seinem Büro angerufen und gesagt hätten: Monsieur Bowles est ici, sollen wir ihn verhaften? Und er habe geantwortet: Nein, nein! und so weiter ... Ich war immer nahe daran, verhaftet zu werden. Weil ich mich mit Marokkanern unterhielt; das war verboten.

In Tunesien war es für mich sogar noch schlimmer! In jeder Stadt griffen sie mich auf und brachten mich zum Kommissariat. Ich mußte meine Papiere vorzeigen und erklären, was ich dort suchte. Sie hielten mich für einen Deutschen, ich weiß nicht, warum. Das war 1933.

***

Hippies bedeuteten mir gar nichts. Ich habe das immer als eine bürgerliche Bewegung angesehen, junge Menschen, die ihrer bourgeoisen Umgebung entfliehen wollten. Es waren keine Proletarier, es waren Aussteiger, viele von ihnen, und sie kamen mit ihrer Erziehung nicht zurecht.

Haben Sie wenigstens auf ideologischer Ebene mit ihnen sympathisiert?

Sie hatten keine Ideologie. Nein, einige von ihnen fand ich sympathisch, andere unsympathisch. Sie waren wie alle anderen auch.

Und als antibürgerliche Bewegung.

Das, ja ...

Sie werden ja oft als einer der ersten Aussteiger der westlichen Gesellschaft, des westlichen Establishments bezeichnet, als der erste einer ganzen Generation.

So hat man mich oft bezeichnet. Ich glaube, die sogenannten Hippies oder Beatniks kamen nur hierher nach Marokko, weil sie gehört hatten, man kriege hier Kif, und zwar einfach und billig. Drogen waren ihnen wichtig. Sie taten nichts, außer sich mit Drogen vollzupumpen. Wenn man aber fleißig arbeitet, hat man nicht viel Zeit, um rumzuliegen und darüber nachzudenken, wie schlimm es um sein Land steht oder um seine Familie. Sie haben nichts ernst genommen. Wenn man aber wirklich arbeitet, nimmt man nur seine Arbeit ernst. Alles andere ist dann zweitrangig.

Aber man kann seinem Alltag nicht davonlaufen, den muß man ertragen, ebenso die Menschen um einen herum.

Was heißt für Sie "Alltag"?

Die Gefühle und Wahrnehmungen, die man hat.

Nein, dein Alltag ist deine Arbeit. So scheint es mir. Das heißt, man wacht am Morgen auf und fängt an zu arbeiten, das ist der Alltag! Klar, das ist natürlich noch nicht alles. Man muß essen, pflegt Freundschaften, allerdings nicht mit sehr vielen Menschen - sonst könnte man nicht mehr arbeiten ...

Es scheint, daß Kifrauchen auch für Sie eine gewisse Bedeutung hatte, für Ihr Schreiben vielleicht?

Das hatte keine Bedeutung! Kifrauchen half mir bloß, mich besser konzentrieren zu können, ich war weniger unruhig. Aber vielleicht hilft das anderen überhaupt nicht, auf jeden wirkt es anders. Es hält viele Leute vollkommen vom Arbeiten ab.

Wirkt es anregend auf die Phantasie, ist es so einfacher, Visionen zu haben?

Visionen bestimmt nicht!

***

Glauben Sie, eine Aufgabe von Literatur sei, die Wahrheit zu sagen?

Ich weiß nicht, ist das ihre Aufgabe? Die Wahrheit zu sagen? Das meint doch nicht die reine, faktische Wahrheit, nein. Man kann eine bessere Wahrheit enthüllen, wenn man einfach eine poetische Wahrheit erzählt.

Umgekehrt: Kann Literatur lügen?

Lügen? Es kommt darauf an, ob einer weiß, wie er es tun soll, und zwar mit Erfolg. Eine Menge guter Literatur ist nichts als Lüge: etwas, das nie passiert ist und niemals passieren könnte. Aber wenn man es auf eine besondere Art erzählt, mag das durchaus einen genaueren Eindruck der Realität vermitteln, als wenn man sich bloß an Fakten hält. Wichtig ist das Endergebnis.

Und das muß eine Wahrheit sein, keine Lüge.

Gewiß, aber sie könnte aus reinen Lügen bestehen.

***

Ich denke, selbst die Literatur muß dem Publikum mehr oder weniger das geben, was es verlangt. Man darf das Publikum nicht beleidigen. Und das Publikum lehnt ja grundsätzlich alles ab, was mit Homosexualität zu tun hat. Sie werden es ganz einfach nicht kaufen, und wenn darüber gesprochen wird, wollen sie es nicht hören. Zumindest ist das so in den USA. Ich schreibe im allgemeinen nicht über Homosexualität. Und ich habe auch nie die Absicht, darüber zu schreiben, nur ganz selten, ein oder zwei Geschichten, ja. Aber ich ändere auch nicht, was ich schreibe, nur um das Publikum nicht zu schockieren, weil nämlich das, was ich schreibe, es ohnehin nicht schockieren würde. Verstehen Sie, was ich meine? Die erste Frage ist immer, ob das Buch veröffentlicht werden soll oder nicht. Wenn einen das nicht interessiert, soll man getrost schreiben, was man will. Wenn einer unbedingt über Homosexualität schreiben will, dann soll er es eben tun. Aber die Verleger werden es vielleicht ablehnen, also hat man das Buch umsonst geschrieben. Möglich, daß man eines Tages, wenn man mit einem anderen Buch Erfolg hat, das erste im nachhinein veröffentlichen kann, aufgrund des Namens, den man sich mit dem zweiten Buch gemacht hat.