Michel Friedman

"Der öffentliche Druck muss steigen"

Fünf Milliarden Mark vom Bund und drei Milliarden von der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft - so sieht das letzte Angebot Deutschlands aus, um einen Teil der Zwangsarbeiter im deutschen Nationalsozialismus abzufertigen. Innerhalb der nächsten Wochen sollen die Verhandlungen fortgeführt und zum Abschluss gebracht werden. Dabei gelte ein "Schulterschluss" zwischen der deutschen Witschaft und der Bundesregierung, erklärte letzte Woche der Beauftragte der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff: Nur so könne ein höherer Anteil der Firmen an der Entschädigungssumme abgeblockt werden.

Michel Friedman, Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland.

Nach den jüngsten Verhandlungen zur Entschädigung von Zwangsarbeitern in Bonn haben Sie das Acht-Milliarden-Angebot der deutschen Wirtschaft und des deutschen Staates als "enttäuschend, peinlich und kleinkariert" kritisiert. Wären nicht die Attribute "erwartungsgemäß, systematisch und großspurig" treffender gewesen?

Selbst wenn dies zu erwarten gewesen wäre, bleibt es bei dieser Bewertung. Das Unerträglichste allerdings ist, dass nicht die Wenigen, die sich jetzt engagieren, zu diesem Ergebnis gekommen sind. Sondern es geht um die vielen Unternehmen, die sich immer noch in der Anonymität verstecken und ihre Verantwortung nicht übernehmen. Dieser untaugliche Versuch, die Hände in Unschuld zu waschen, muss demaskiert, und diese Unternehmen müssen zu ihrer Verantwortung gezwungen werden.

Welche Mittel und Methoden sehen Sie, um dies zu erreichen?

Öffentlicher Druck und die Veröffentlichung der Namen der Firmen, die im Nationalsozialismus aktiv Menschen zu Sklavenarbeit gezwungen haben und die dadurch Profite erworben haben, sind Möglichkeiten zur Demaskierung.

Gehören Ihrer Ansicht nach dazu auch Anzeigen in großen Zeitungen gegen Firmen, die Zwangsarbeiter ausgebeutet haben? Während der vorletzten Verhandlungsrunde in Washington gab es diese Anzeigen zum Beispiel gegen Daimler-Chrysler und Bayer. Während der Verhandlungen in Bonn hingegen gab es so etwas nicht.

Ich weiß, dass die Unternehmen durch diese Anzeigen-Aktionen nervös und hektisch geworden sind. Wenn es in der allernächsten Zeit nicht zu Ergebnissen kommt, wenn sich also nicht weitaus mehr Unternehmen an dieser Stiftung beteiligen, muss dieser öffentliche Druck steigen.

Auch in Form von Groß-Anzeigen?

Durch jede Form von Öffentlichkeit. Es kann nicht sein, dass diese Vielzahl von Unternehmen sich wegduckt, in der Hoffnung, ihrer Verantwortung auf diese Art und Weise nicht nachkommen zu müssen. Hier geht es ja nicht nur um Geld, sondern auch um die ethische Einordnung, dass Unrecht Unrecht ist. Hier geht es um die geschichtliche, politische und rechtliche Einordnung, dass die Zwangsarbeiter Opfer und die Unternehmen Täter waren, dass Verbrechen an Menschen begangen wurden.

In Bonn hieß es kurz und bündig: "Das ist unser letztes Wort."

Ich kann allen Beteiligten nur den Rat geben, in der nächsten Verhandlungsrunde von einer anderen Ausgangslage zu einem anderen Ergebnis zu kommen als dem von letzter Woche. Mir geht es einerseits um eine Summe, die den Ansprüchen der Einzelnen - wenn auch hilflos - nahe kommt. Andererseits geht es mir aber um die wenigen Unternehmen, die sich jetzt dieser Verantwortung stellen und dabei allein bleiben. Die vielen Unternehmen, die sich noch versteckt halten, müssen sich an dieser Stiftung beteiligen. Mit der Beteiligung an der Stiftung würden sie sich dazu bekennen, dass in ihrer Unternehmensgeschichte Verbrechen an Menschen begangen wurden.

Im deutschen Nationalsozialismus haben ja nicht nur die Firmen, sondern vermittelt über den Staat alle Deutschen von den Gewinnen aus Zwangsarbeit profitiert: durch niedrigere Steuern, niedrige Beiträge zur Sozialversicherung und höhere Renten zum Beispiel.

Deswegen begrüße ich die aktive Beteiligung der Bundesregierung an der Entschädigung. Sie drückt damit aus, dass dies ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Umso mehr, als es ja auch Zwangsarbeiter bei der Öffentlichen Hand gegeben hat, beispielsweise in den Kommunen. Hier hat der Oberbürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, jüngst vorbildlich seine eigene Stadt und die Verknüpfung von Zwangsarbeit mit kommunalen Einrichtungen der Öffentlichkeit präsentiert und sich zu seiner Verantwortung bekannt.

Das ist der eine Teil. Wer immer noch fehlt, sind die Bauernverbände, die Rentner, kurz: Alle, die direkt oder indirekt von Zwangsarbeit profitiert haben. Die müssten nun in die Entschädigungsverhandlungen einbezogen werden und zahlen.

Ich glaube nicht, dass dies jetzt primär die Frage ist. Im Vordergrund steht, wo die Industrie und die Öffentliche Hand von Zwangsarbeit profitiert hat. Dies ist einerseits durch das aktive Handeln der Bundesregierung, aber auch durch das, was Herr Schmalstieg jetzt initiiert hat, auf den Weg gebracht worden. Ich würde mir wünschen, dass die Initiative von Herrn Schmalstieg in der Erarbeitung des geschichtlichen Wissens - Zwangsarbeit und Öffentliche Hand - fortgesetzt wird.

Ohne eine Zwangsabgabe für deutsche Rentner?

Das ist nicht das Thema.

Auch die so genannten Arisierungen im Dritten Reich, die Enteignung von Jüdinnen und Juden zu Gunsten der deutschen Volksgemeinschaft, sind zur Zeit kein Thema.

Die Frage der "Arisierungen" ist ein äußerst komplexes Thema, das in den vergangenen Jahren zum Beispiel auch bei den Verhandlungen mit den Banken eine Rolle gespielt hat und weiter spielen wird.

Sehen Sie denn Signale der Bundesregierung, dass zu den "Arisierungen" gesonderte Entschädigungsverhandlungen geführt werden sollen?

Dies ist momentan nicht im Mittelpunkt der Diskussion. Es hat dazu in den letzten Jahrzehnten ganz unterschiedliche Lösungsansätze gegeben. Jetzt geht es aber vorwiegend um die Frage der Entschädigung von Zwangsarbeit. Vorwiegend deshalb, weil nur noch ganz wenige Opfer leben, diese teilweise sehr alt und krank sind, und jeder weitere Tag, an dem nicht entschädigt wird, ein Tag zu viel wäre.

Erwarten Sie, dass es so "enttäuschend, peinlich und kleinkariert" weitergeht? Oder dass die Stiftungsinitiative weitere Verhandlungen sogar platzen lässt?

Sollte es nicht zu einer würdigen, das heißt einer dem menschlichen Leid und der brutalen Ausbeutung von Menschen durch die Industrie in der Nazi-Diktatur angemessenen Lösung kommen, ist das Scheitern der Gespräche nicht auszuschließen. Ich warne alle Beteiligten davor, denn am schlimmsten würde es die Opfer treffen, die wiederum Zeit verlieren. Es muss sofort entschädigt werden. Die wichtigste Ebene ist, dass eine geschichtliche und rechtliche Anerkennung stattfindet: Die Zwangsarbeiter waren die Opfer, die Manager der Industrie waren die Täter. Daneben wird es einen hilflosen, vielleicht aber wenigstens glaubhaften Versuch geben müssen, dies in eine Zahl zu übersetzen, die jetzt gerade verhandelt wird.

Was war für Sie bisher enttäuschender? Das Angebot der deutschen Wirtschaft und des deutschen Staates oder die Relativierungsversuche von deutschen Politikern? Der CDU-Parlamentarier Wolfgang von Stetten sprach vor einigen Wochen von Zwangsarbeitern auf dem Lande, die es doch gar nicht so schlecht gehabt hätten.

Das Enttäuschendste an den Verhandlungen ist, dass die deutsche Industrie nicht aktiv und engagiert, sondern nur auf Grund des Druckes gehandelt hat. Enttäuschend ist das "Ob" der Verhandlungen, das "Wie" der Verhandlungen, nicht das "Wieviel" der Summe. Äußerungen wie die von Herrn von Stetten halte ich für unerträglich, politisch nicht nachvollziehbar und geschichtlich falsch.

Der deutsche Verhandlungsleiter Otto Graf Lambsdorff sah plötzlich gar keine polnischen Zwangsarbeiter mehr, sondern nur noch Wanderarbeiter, die seit 100 Jahren immer wieder mal nach Deutschland kommen.

Ich halte die Äußerungen von Graf Lambsdorff zu den polnischen Landarbeitern für unglücklich und kontraproduktiv.

Haben Sie ihm das gesagt?

Wir haben darüber gesprochen.