Stefan Keller

»Das Bild der Schweiz bröckelt jetzt«

Die Schweiz wird von ihrer Vergangenheit eingeholt. Ende letzter Woche veröffentlichte eine unabhängige Kommission unter Leitung des Wirtschaftshistorikers Jean-Fran ç ois Bergier ihren Bericht zur Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs: Darin wird erneut das Selbstverständnis einer neutralen, unbeteiligten Schweiz während der Nazi-Zeit in Frage gestellt. Entsprechend groß war die Aufregung im Alpenland (siehe auch Seite 14).

Stefan Keller ist Redakteur der Züricher WoZ und Autor des Buches »Grüningers Fall-Geschichten von Flucht und Hilfe«.

Der Bergier-Bericht ist in der Schweiz auf heftige Reaktionen gestoßen. Das Spektrum der Kritiker reicht von Bischöfen bis zum Rechtsextremisten Christoph Blocher. Ist sich die Schweiz einig in der Ablehnung des Berichts?

Es sind die üblichen Kreise in der Schweiz, die auf Abwehr gehen, die versuchen, das Wissen über die Geschichte aktiv zu unterdrücken: Franz Steinegger, der Chef der FDP, hat seine Kritik geäußert, ohne überhaupt den Bericht gelesen zu haben. Die SVP-Fraktion hat bereits zwei Tage vor Erscheinen des Berichts angekündigt, dass sie ihn zurückweisen werde. Daneben gibt es aber viele Schweizer, die den Bericht erst einmal lesen möchten. Dazu braucht man aber Zeit. Der Bericht umfasst immerhin mehr als 800 Seiten.

Selbst die Neue Zürcher Zeitung verteidigt die Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs: Ein großer Teil der Unmenschlichkeit sei auf den nackten Überlebenskampf der Schweiz zurückzuführen. Lässt sich die Legende noch aufrechterhalten, dass die Schweiz aus reiner Not gehandelt hätte?

Der Bericht weist ja gerade nach, dass der Schweiz keine außenpolitischen Nachteile durch Nazideutschland erwachsen wären, wenn sie mehr Flüchtlinge aufgenommen hätte. Die Kommission sieht vielmehr den schweizerischen Antisemitismus als einen entscheidenden Faktor in der Flüchtlingspolitik. Der Bericht beginnt mit einer Untersuchung zur langen Tradition eines kulturellen und religiösen Antisemitismus in der Schweiz. Er zeigt dann, wie dieser traditionelle Antisemitismus mit dem neuen Antisemitismus der Nazis zusammentraf und eine verhängnisvolle Koalition einging, die für Zehntausende tödlich war, ohne dass die Schweizer Verantwortlichen eine Ausrottung der Juden propagiert hätten. Sie waren einfach gegen die Einreise von Juden, und das bedeutete ab einem bestimmten Zeitpunkt den Tod dieser Leute.

Welche Motivation der Flüchtlingspolitik zu Grunde liegt, ist umstritten. Jürg Stadelmann argumentiert in seinem Buch »Umgang mit Fremden in bedrängter Zeit«, dass die Schweiz sich ans Völkerrecht gehalten habe, das einen Genozid noch nicht kannte. So sei zu erklären, dass die Schweiz zwar mit aller Selbstverständlichkeit eine große Zahl flüchtender Soldaten aufgenommen, Zehntausende von Juden hingegen abgewiesen hat.

Dass der Antisemitismus existiert und eine große Rolle spielte, lässt sich anhand von Tausenden von Zitaten der zuständigen Beamten beweisen. In diesem Zusammenhang hat die Kommission schockierende Aussagen zu Tage gefördert, die bisher auch Experten nicht bekannt waren. Da gibt es nichts zu leugnen. Angesichts eines Völkermords kann man doch nicht sagen: »Leider haben wir kein Gesetz dagegen, darum müssen wir jetzt zuschauen.« Das ist eine absurde Position. Übrigens hat die Schweiz auch gesetzeswidrig flüchtende russische und polnische Kriegsgefangene an die Deutschen ausgeliefert.

Inwiefern geht der Bergier-Bericht auf die rechtlichen Aspekte ein?

Die Kommission spricht von einer funktionalen im Gegensatz zu einer intentionalen Beihilfe zum Völkermord. Ob nun beabsichtigt oder nicht, hat die Schweiz zur Massenvernichtung beigetragen. Und ich meine, dass das in bestimmten Fällen auch bewusst gewollt wurde.

Dennoch überrascht die heftige Kritik, auf die der Bericht in der Schweiz gestoßen ist. Die Bundespräsidentin Ruth Dreifuss versuchte die Wogen zu glätten und betonte, »der Schweiz sei es damals trotz allem gelungen, inmitten eines der Nazibarbarei ausgelieferten Europas ein Hort der Freiheit und der Demokratie zu bleiben«.

In der Tat ist die Schweiz in dieser Zeit ja nicht ein faschistischer Staat geworden, auch wenn ich nicht weiß, wessen Verdienst das sein sollte. Sie hat Distanz gewahrt. Die demokratischen Rechte sind mehr oder weniger erhalten geblieben, auch wenn sie einem Vollmachten-Regime verwaltet wurden. Es gab keine Konzentrationslager. Die Schweiz hat sich im europäischen Rahmen zu dieser Zeit relativ demokratisch erhalten. Und für die Schweizer Juden war dies sehr wichtig, überlebenswichtig. Andererseits hat mich das Zitat von Ruth Dreifuss auch ein wenig irritiert. Man steht vor einem Bericht zu grauenhaften Ereignissen. Und da sollte man sich doch erst einmal mit diesen auseinandersetzen, bevor man Entlastungsmaterial präsentiert.

Was steht hinter der Kritik an dem Bericht? Der Versuch, nachträglich die Ehre der Schweiz zu retten-endlich einen Schluss-Strich unter die Vergangenheit zu ziehen?

Es ist ganz klar eine nationalistische, chauvinistische Kritik. Sie stammt von denen, die für eine isolierte Schweiz eintreten, für eine Schweiz außerhalb der EU und außerhalb anderer internationaler Verpflichtungen. Diese Leute wollen den Schweizer Reichtum verteidigen und sonst nichts. Sie sagen: Zu Recht ist es uns immer besser gegangen als unseren Nachbarn-und heute droht es, uns schlechter zu gehen. Sie verteidigen eigentlich nur ein chauvinistisches Klischee. Ich glaube nicht, dass man die Zukunft bewältigen kann, indem man die Vergangenheit vergisst. Gerade hier in der Schweiz hat es sich ja gezeigt, dass das Unterdrücken der Geschichte, das Verdrängen der Mitschuld oder Mitverantwortung, nur dazu geführt hat, dass das ganze Thema immer wieder zurückkam.

Ist die Ablehnung des Berichts denn auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen beschränkt?

Die Kritik kommt vor allem von Leuten, die meinen, damit jetzt Politik machen zu können. Und sie kann tagespolitisch eine gewisse Dynamik entwickeln. Das wird sich jetzt bei den Bundesratswahlen zeigen. Da wird es darum gehen, ob die erste jüdische Bundesrätin, Ruth Dreifuss, wiedergewählt wird. Ihre Wiederwahl wird ja von der SVP auch mit antisemitischen Tönen versucht zu verhindern.

Die Schweiz hat sich immer als ein neutrales Land verstanden, an dem der Faschismus vorbei gezogen ist. Inwieweit ist dieses Selbstverständnis der Schweizer in den letzten Jahren durch Untersuchungen wie den Bergier-Bericht erschüttert worden?

Nicht unbedingt die Neutralität selbst wird durch solche Berichte in Frage gestellt, aber das hehre Bild, das man sich von der Neutralität gemacht hat. Neutralität während des Zweiten Weltkriegs mitten in Europa-das bedeutet ja auch, sich möglichst schleimig aus jeder Affäre zu ziehen. Die Schweiz war ab November 1942 vollständig umschlossen von den Achsenmächten. Da ist es nicht erstaunlich, dass man sich arrangiert hat. Erstaunlich ist viel mehr, dass dieses Verhalten später als die großartigste Epoche unserer Geschichte ausgegeben werden konnte. Dieses Bild bröckelt jetzt. Denn tatsächlich hat sich die Schweiz in erster Linie opportunistisch verhalten.

Genauso wie die Neutralität der Schweiz nachträglich glorifiziert wurde, hat man auch die Rolle der Schweizer Armee völlig übertrieben. Man hat so getan, als ob die Armee die Deutschen von einem Einmarsch abgeschreckt hätte. Tatsächlich war die Armee nur einer von vielen Faktoren. Viel wichtiger war, dass die Schweiz dank ihrer Neutralität einen bombensicheren Produktionsrahmen und einen bombensicheren Finanzplatz bot, wo die Deutschen sogar mit den Alliierten Geschäfte machen konnten.