Marvin sagt: »Wanna blow?«

Singende Engel, koksende Unsterbliche und glückliche Prinzen: Ein Traum.

Es ist Spätsommer in New York, es ist heiß, und ab der 96. Straße wird der Taxifahrer gesprächig. »Harlem, die Hauptstadt des Black America, das ist 'ne andere Nummer, Mann, das ist ein Muthafucker von einer Gegend.« Der Fond ist vom Fahrer durch eine Glasscheibe getrennt. Deshalb kann ich ihn nur schwer verstehen und schaue in seinen Rückspiegel, um sein Gesicht zu sehen. Er trägt eine Sonnenbrille, seine Haare sind lang, zu Zöpfchen geflochten und hinter seinem Kopf zusammengebunden. Er lächelt. »Wo willst du hin? Electric Lady Studios?«

Ich mache eine Tür auf, gehe durch einen Flur, der erst leicht ansteigt, dann wieder abfällt, und mit rotem Teppich ausgelegt ist. Noch eine Tür, ein Vorraum, links geht es zu einem riesigen Mischpult, rechts in einen großen Raum, der mit Raumteilern abgetrennt ist. Ein Bass spielt immer wieder die gleiche Figur von »Devil's Pie«, dem zweiten Stück von »Voodoo«, wieder und wieder, man kann ihn aber nicht sehen. Die Becken des Schlagzeugs werden durch die Schallwellen zum Schnarren gebracht. In dem Raum ist es heiß, ein halbes Dutzend Heizlüfter sind angeschaltet. In einer Ecke steht ein grüner Plastikeimer.

D'Angelo sitzt auf einem Barhocker neben einem alten Synthesizer und raucht einen Joint. »Gut, dass du da bist, ich hoffe, dir gefällt es. Wir leben im Aquarian Age, ein matriarchales Zeitalter, wenn du verstehst, was ich meine.« Obwohl ich keine Ahnung habe, glaube ich zu verstehen. »Die Fake-Niggaz haben die spirituellen Werte vergessen, es ist an der Zeit, den echten Scheiß zurückzubringen.« Ich habe alle meine Fragen vergessen, will auch jetzt den Zettel nicht aus meiner Tasche kramen, es ist eh alles gesagt, so nicke ich und schaue ihn an. D'Angelo. Anders als auf seinem Plattencover und in seinem Video ist er nicht nackt, sondern trägt ein braunes Hemd mit blauen Streifen, eine Brille mit Gläsern im gleichen Blau, einen kurz geschnittenen Bart und eine kurze Flechtfrisur. »Keine Namen, Mann.« Wofür auch.

Hinter einer Stellwand kommt eine Katze hervorgeschlichen, streicht um unsere Beine, schaut kurz hoch und leckt sich das Maul. Jimi. »Lass uns zu diesem Typen im Village fahren, der diese Afroklamotten verkauft, Hernandez, kommt aus Argentinien, Miles kauft seinen Kram auch da.« Er steht auf und geht, ich drehe mich um und schaue auf ein Foto von Marvin Gaye, das links neben der Tür an der Wand hängt, eingerahmt und hinter Glas und sehe in mein Spiegelbild, mein Gesicht ist schwarz.

Auf einmal sitzen wir in der U-Bahn. Uns gegenüber zwei Mädchen mit großen No-Limit-Pappschildern in den Händen und silbernen Mützen auf dem Kopf. Der Weiße neben uns liest die New York Times und hört Parliament auf seinem Walkman. D'Angelo schnippt mit seinen Fingern den Anfang von »The Goose« mit. »Seinen eigenen Verlag besitzen und die Hand auf seinen Rechten zu haben, ist wichtig. Aber noch wichtiger ist: Was veröffentlichst du?« Worum geht es also? Um Gefühle, um Können, um Klänge, um Geschichte, um Umwidmungen, um Brüche, um Körper, um Farben? Um Eleganz? Norden und Süden? Den lieben Gott? Geht es um Texte oder Sounds? Was sind Texturen? Wie fühlen sie sich an? Warum habe ich nie Saxophon geübt?

Er sagt noch viele Dinge, und ich kann sie mir nicht merken. Irgendwann steigen wir aus, und es ist Nacht. Die Straßen sind eng, die Häuser hoch. Der Eingang zum Club ist nicht weit von der U-Bahnstation. Riesige Türsteher in schwarzen Anzügen winken uns durch. Es geht durch einen Korridor und schließlich sind wir in einem großen Raum mit einer Bühne. Über uns ist noch eine Empore. Wir gehen durch all die Menschen hindurch, niemand spricht uns an, niemand nimmt uns überhaupt wahr, ich setze mich an einen Tisch.

Neben mir sitzt ein Mann, es ist Marvin - und genauso fährt es mir durch den Kopf: He, das ist ja Marvin. Er trägt eine dieser Gear-Mützen auf dem Kopf, allerdings in Rot und nicht in Schwarz wie alle anderen - als Frisur-Schoner, so wie Hercule Poirot in den Agatha-Christie-Verfilmungen eine Bartbinde trägt, und er sagt: »Hey, Mann, was geht?« Wir tauschen einen komplizierten Handgruß aus. »Wanna blow?« Ich bin irritiert, aber ohne meine Antwort abzuwarten, streckt er mir eine silberne Dose mit weißem Pulver hin und reicht mir ein Schäufelchen davon. Ich nehme an und schnupfe zwei Schäufelchen. »Electric Lady«, sagt Marvin und kratzt sich an der Nase, »bist du sicher, dass der Laden nicht abgehört wird?«

Wir schauen zur Bühne, D'Angelo und seine Band fangen an zu spielen. Es sind keine Songs und keine Tracks, es sind endlose Stücke, zerfasert und doch aus einem Guss. D'Angelo singt, als sänge er nur für sich selbst, seine Kopfstimme ist ein Instrument unter vielen. Die Musiker schauen sich ab und zu an und lachen. Obwohl sie über die Bühne verstreut sind, spielen sie, als würden sie einen magischen Kreis um sich ziehen. Das Kokain beginnt zu wirken, und es ist, als würde ich eingefroren, während gleichzeitig warme Schauer über meine Haut krabbeln. Ich rauche eine Zigarette.

»Das ist eine spirituelle Sache«, murmelt Marvin, »was hörst du, wenn du Sex hast, Trommeln oder Ravel? Für wen singst du, für deinen Vater, für Gott oder für die Frauen in der ersten Reihe? Wann fühlst du dich schuldig, vor oder nach dem Sex?« Ich schlucke und genieße das Gefühl von Betäubung in meinem Rachen.

Der Club ist dunkel, aber nicht verraucht. Ich sehe mich um. Der Barkeeper lehnt an seinem Tresen und hat seine Augen auf die Bühne gerichtet, niemand will etwas bestellen. In einer Ecke sitzt ein kleiner Mann und blickt abwesend auf die Bühne. Neben ihm sitzen zwei Frauen, die mindestens einen Kopf größer sind als er. Er nickt mit dem Kopf und lächelt. Es ist Prince.

D'Angelo: »Voodoo«. EMI