Dschungelbuch

Durchs Auge ins Hirn

Von Genuss-Lesern, Distanz-Lesern und Buch-Schnüfflern. Über verschiedene Lektüre-Typen und deren Wirkungen.

Es muss Rauschmittel nur lange genug geben, dann sind sie Teil des kulturellen Erbes. Etwa Romane. »Ich kann, zum Kuckuck, gar nicht energisch genug auf die Gefahr hinweisen, welche die Lektüre dieser Geschichtenbücher darstellt - vorzüglich derer, die sich 'Roman' nennt.

Wer Ohren hat, der höre. Das britische Tollhaus wird ebenso wie die französische Salptrière von einer beunruhigenden Anzahl junger Menschen, die meisten Weibspersonen, bevölkert, welche von diesen verantwortungslosen Erzählungen, die nicht zwischen Fakt und Phantasie unterscheiden, über die Schwelle des Wahnsinns gelockt worden sind. Wie sollen jene zarten Geister auch urteilen? Ach, jede Leserin von 'Romanen' muss als gefährdete Seele gelten -, denn sie hat einen Teufelspakt geschlossen und verschleudert ihre kostbare Zeit für nichts als die gemeinsten und schäbigsten Arten geistiger Erregung.«

So erzählt man es sich noch im nacherzählten Philadelphia von Thomas Pynchons »Mason & Dixon« im späten 18. Jahrhundert. Der deutsche Richter Anselm Feuerbach berichtet aus der gleichen Zeit von zahllosen Frauen Mitteleuropas, die durch die Lektüre von Romanen der Tollheit anheim fielen und in ihrer Umnachtung Verbrechen begingen. Selbst knapp ein Jahrhundert später gelten in Thomas Manns »Buddenbrooks« die Erzählungen von E.T.A. Hoffmann unter den Lübecker Bürgern noch als Werke, die für junge Mädchen gerade noch angingen, aber einer ernsthaften Beschäftigung nicht würdig seien, weil sie nur an die Sinne appellierten.

Das alles ist lange her. Doch selbst in Zeiten, wo riesige Apparate sich mit nichts anderem beschäftigen, als die Geschichte, Wirkung und die Ursprünge dieser Bücher zu erforschen, und sich Eltern freuen, wenn ihre Töchter sich der Lektüre widmen, anstatt raven zu gehen, sind Romane trotzdem noch immer das, was sie schon immer waren: Rauschmittel. Man wirft sie ein, man gibt sie sich, man zieht die Zeilen des Textes als Linien durch das Auge direkt ins Gehirn. Für die Weile der Lektüre nimmt man einen anderen Blick auf die Welt ein, und wenn bestimmte Parameter zwischen Autor und Leser übereinstimmen, verleiht das Buch einen anderen Körper. Das gilt für fast alle Lektüren: unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe, in der U-Bahn, in einem Sessel oder am Schreibtisch.

Wie bei allen kulturell lange tradierten Genussmitteln haben sich eine Reihe von Konsumptions-Modellen herauskristallisiert. Und das fängt stets mit der Hardware an. Auch das Lesen von Romanen hat seine Rituale, sein Bauen, sein Sich-gegenseitig-in-den-Mund-Stecken, sein Zerkleinern und Schein-Rollen.

So gibt es etwa Menschen, die Bücher schnüffeln. Bevor sie auch nur eine Zeile gelesen haben, stecken sie ihre Nase zwischen die Seiten und riechen an dem Leim der Klebebindung und an der Druckerschwärze der Buchstaben. Manche Schnüffler stehen auf Dünndruck-Ausgaben der französischen Bibliothèque de la Pléiade, wegen des besonderen Flavours, den das Papier der Bindung hinzufügt, manche lieben alte DDR-Bücher aus den Sechzigern - ebenfalls wegen des Papiers, besonders aber wegen des Holzanteils, dem eine leicht staubige Note zugeschrieben wird. Manche bevorzugen ganz schlicht eingeschweißte Neuausgaben eines beliebigen deutschen Literaturverlags, Hauptsache, der Geruch des Leims hat sich noch nicht verflüchtigt oder ist etwa mit Zigarrenduft versetzt, wie bei Büchern aus bestimmten Antiquariaten.

Die Fixierung auf den Geruch ist jedoch nur der erste Schritt. Der gemeine Genussleser geht weiter. Er glaubt, was er lese müsse die Spuren der Lektüre tragen und misshandelt seine Bücher systematisch. Er biegt sie um, bis die Rücken knacken, er schaut sich die Narben dieser Knicke auf dem Rücken an, streichelt ab und zu darüber und lässt das Lesezeichen im Buch stecken, wenn er das Buch ausgelesen hat. Er lässt das Buch offen liegen und freut sich, wenn jemand aus Versehen drauftritt. Jeder ringförmige Fleck einer abgestellten Kaffeetasse macht ihn glücklich, weil das Buch so die gemeinsame Erfahrung des Rauschs aufgedrückt bekommen hat.

Der Distanz-Leser hat während der Lektüre einen Bleistift in der Hand. Mit dem wird gelegentlich etwas unterstrichen, ein Ausrufezeichen an den Rand gemalt oder »siehe Nietzsche« in den Text eingefügt. Er versucht, mit dem Buch in Dialog zu treten und es zu seinem eigenen Behufe zu nutzen, es weiterzudenken. Der Distanz-Leser ist dem direkten Rausch ferner als der gemeine Genuss-Leser, er stürzt sich weniger in den Fluss des Textes vor seinen Augen, sondern klinkt sich eher in das Netzwerk vorhergehender Lektüren ein - begibt sich also auf eine andere Ebene als der gemeine Genuss-Leser.

Mit diesem Willen zur aktiven Teilnahme am Rausch steht der Distanz-Leser im Gegensatz zum passiven Genuss-Leser. Dieser versucht, sich selbst im Prozess des Lesens zum Verschwinden zu bringen. So groß das Buch, so klein er selber. Er liest bevorzugt mehrere Bücher des gleichen Autoren hintereinander, wenn es ihm gefällt, um so zu versuchen, sich dem Denken des großen Mannes oder der großen Frau anzuverwandeln. Er glaubt, nur so könne er sich für ein paar Tage die Brille dieser anderen Sicht auf die Welt aufsetzen und genauso durch die Straßen laufen.

Dementsprechend wenig tut er den Büchern an: Gesamtausgaben misstraut er, da die für ihn etwas Posthumes haben und der Lebendigkeit des Erzählten widersprechen. Trotzdem bevorzugt er zumeist bereits verstorbene Autoren, da nur so sicher ist, zumindest potenziell alle Geschichten des Autors lesen zu können. Oft benutzt er nicht einmal ein Lesezeichen, um seine physische Präsenz vor dem Buch geheimzuhalten. Manche der passiven Genussleser gehen sogar so weit, mit einer Schere das Lesebändchen zu entfernen, um auch diese Spur noch zu tilgen, sie wollen den Text auf keinen Fall zerteilen, die Integrität des Zeilenflusses muss unter allen Umständen gewahrt bleiben.

Und eben jener Zeilenfluss ist es, der alle verschiedenen User miteinander verbindet: Hier entsteht der Leserausch. Zeile für Zeile, Absatz für Absatz, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Manchmal muss schneller nachgelegt werden, manchmal kann man sich mehr Zeit lassen. Manche lesen vom Anfang bis zum Ende, manche schauen erst mal in die Mitte, um dann zwei Drittel zu lesen und vor dem letzten Drittel das Ende. Manche ziehen ihren Kick aus der Konstruktion, manche aus der Sprache, die meisten aus dem Erzählten selbst.

Der üblichste Mischkonsum von Romanen ist der mit Koffein. Gelegentlich wird behauptet, bei der Lektüre von bestimmten Büchern müsse man trinken, kiffen oder gerade von Halluzinogenen herunterkommen. Von einem Buch-Speed- oder Buch-Kokain-Cocktail wird seltener berichtet. Wahrscheinlich sind die Wirkungen zu ähnlich. Wer beim Lesen raucht - und das sind nicht alle Raucher, sondern vor allem die, die auch nachts aufstehen, um sich eine Zigarette anzuzünden -, tut dies, um die Aufregung des Lesens mit der Beruhigung des Rauchens zu ergänzen. So bringt man sich in den angenehmen Zustand, in dem sich upper und downer gerade nicht neutralisieren, sondern bedingen - ein Zustand, der jeden Mischkonsum so angenehm macht.