Deutsche Medien über die US-Wahl

Sierra Leone hilf!

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Binnen einer Nacht sind die USA zu einem Land der Dritten Welt geworden. Das machen einem jedenfalls die deutschen Kommentatoren der US-Präsidentschaftswahlen glauben. So kritisierte Die Welt »die kuriosen Unregelmäßigkeiten in Florida, die durchaus an Praktiken in der so genannten Dritten Welt erinnern«. Die taz warnte vor einer »Schadenfreude der Diktatoren«, die sich angesichts des Hickhacks um den Ausgang der US-Wahlen einstellen könne. Sie kritisierte das Geschehen als ein »Spektakel, wie man es eher in Ägypten oder Pakistan und in anderen Wackeldemokratien der Dritten Welt erwarten könnte - aber doch nicht in dem Land, das sich für »die Mutter der Demokratie schlechthin hält«. Und nachdem aus dem afrikanischen Sierra Leone der wohlgemeinte Vorschlag gekommen war, die Präsidentschaft zwischen Gore und Bush aufzuteilen - jeder zwei Jahre - spekulierte der Berliner Tagesspiegel: »Vielleicht rettet ja Sierra Leone die gefährdete Demokratie in den USA.«

Nicht nur, dass solche Vergleiche rassistische Stereotypen bedienen, nach dem Motto: Im Trikont sind Wahlen grundsätzlich undemokratisch und die Staatsoberhäupter korrupt. Ein gehöriges Maß an Schadenfreude über die Situation in den USA kommt auch zum Ausdruck. Da werden vom Deutschlandfunk bis zum heute-journal Experten befragt, die unisono zu Protokoll geben, dass das Wahlsystem in den USA reformiert werden müsse und dass es solche Situationen in Deutschland nicht geben könne. Chaos und Anarchie scheinen den Partner auf der anderen Seite des Atlantiks erfasst zu haben, ein »Wahl-Gau« (Berliner Morgenpost) nach der »dramatischsten Wahlnacht seit Menschengedenken« (Die Welt). »Sind die Vereinigten Staaten in Sachen Wahlsystem vielleicht doch mehr eine Bananenrepublik als eine Supermacht?« fragt der Tagesspiegel frei heraus, und der Wahlforscher Dieter Roth antwortet: »Das US-amerikanische Wahlmännersystem ist ein Anachronismus. (...) Aber ein Land, das so eine junge Geschichte hat wie die USA, ist eben immer stolz darauf, das wenige, was es an Historischem hat, am Leben zu halten.«

Ja, in Deutschland wäre das nicht passiert, schließlich haben wir Deutsche ziemlich viel an »Historischem«. Zum Beispiel eine Demokratie, die uns die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg geschenkt haben. Vielleicht sollten wir ihnen nun im Gegenzug unser Wahlsystem ausleihen, um die Probleme zu bewältigen. Denn das deutsche Wahlsystem ist so musterdemokratisch, dass es sogar 16 Jahre Korruption unter Helmut Kohl unbeschadet überstanden hat.

Ein Super-Gau findet schließlich immer nur bei den anderen statt. Hierzulande handelt es sich höchstens um »Fehler« oder um »menschliches Versagen«. Der Untergang des russischen U-Bootes »Kursk« symbolisierte aus deutscher Sicht den Niedergang der russischen Nation. Auf dieselbe Art, wie der Absturz der Concorde im Sommer dieses Jahres als eine Niederlage der französischen Technik interpretiert wurde und das Hochwasser auf den britischen Inseln das mangelnde Organisationstalent der Briten zu belegen schien. Und nun auch noch die Amis. Verblüffend, aber es sind die Staaten der Anti-Hitler-Koalition, die offensichtlich gerade von Systemkrisen heimgesucht werden. Glaubt man den deutschen Medien, dann können nur wir Deutsche den damaligen Alliierten ein Vorbild sein und beibringen, wie man U-Boote lenkt, Flugzeuge fliegt, Hochwasser eindämmt und demokratische Wahlen abhält. Wir - oder vielleicht noch Sierra Leone.