»Der lange Weg nach Westen«

Endlich! Reich und gut!

Nach der Wiedervereinigung sollte die deutsche Geschichte neu geschrieben werden. Der sozialdemokratische Historiker Heinrich August Winkler hat es getan.

Der Historiker Heinrich August Winkler gilt als verdienstvoller Mann, der sich nun, nach Abschluss seines zweibändigen Werks »Der lange Weg nach Westen«, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes befindet. Dieses Buch, schwärmte Richard Herzinger in der Zeit, setze Maßstäbe, worauf Johannes Willms in der Süddeutschen Zeitung noch einen drauflegte: Das Buch setze »einen Maßstab, der noch lange Zeit gelten dürfte«. Dass ein Werk, das den Anspruch erhebt, die »Deutsche Geschichte« zu sein, auch über einen längeren Zeitraum hinweg Gültigkeit besitzen sollte, müsste doch eigentlich selbstverständlich sein. Doch es scheint, dass man auch in den Feuilletons den neuen Maßstäben noch nicht so ganz traut.

Heinrich August Winkler nämlich hat die These gewagt, dass die deutsche Geschichte, wie man sie bislang kannte, mit der Vereinigung 1990 geendet habe. Was bisher in den Feuilletons für Debatten sorgte oder in Nebensätzen einfach behauptet werden konnte, wird vom bedeutungsträchtigen Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Humboldt Universität aus verkündet. Nun ist es also amtlich: Die Wiedervereinigung hat einen modernen Staat hervorgebracht, der zwar vom Guten der deutschen Geschichte reichlich übernommen, aber das Antizivilisatorische und Barbarische, das die europäischen Nachbarn schon dem »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« des 15. Jahrhunderts zu Recht nachsagen konnten, endgültig abgestreift hat.

Winkler, ein bekennender Sozialdemokrat und glühender Verehrer Willy Brandts, hat die Aufgabe übernommen, der deutschen Geschichtswissenschaft einen neuen nationalen Kanon zu geben. Und er hat die Aufgabe bestens erfüllt. Der Verlag bietet das Werk wie eine Volksausgabe an, alles sei »anschaulich und spannend dargestellt«; und mit dem Inhalt dürften die Deutschen auch keine Probleme haben, denn dank Winklers Mission ist es zu erklären, dass am Ende alles gut gegangen und dass gerade jetzt alles gut ist. Winkler betrachtet die historischen Prozesse von einem Punkt aus, an dem sich die Geschichte bereits vollendet hat.

Winkler behauptet, dass sich das »Reich« seit der Zeit des päpstlichen Segens bis zum Jahr 1945 auf fatale Weise in die deutsche Geschichte eingeschrieben habe. Der Glaube an das mittelalterliche Reich habe im 18. und 19. Jahrhundert das Entstehen eines modernen bürgerlichen Verfassungsstaates auf deutschem Gebiet verhindert. Der Reichsglaube und der damit verbundene Nationalkomplex im 20. Jahrhundert habe zu vielen historischen Fehlentscheidungen geführt, habe zwei Weltkriege mitverursacht und, vor allem und immer wieder, eine nach Winkler historisch notwendige »deutsche Einigung« verhindert.

Zudem habe das Reich seit Luther einen gewissen Drive nach Osten gehabt. Warum diese von Winkler unterstellte Ostorientierung zwingend ein Nachteil gewesen sein soll, bleibt das Geheimnis des gebürtigen Königsbergers. Es scheint, dass auch für ihn, wie einst für Konrad Adenauer, an den jeweiligen Ostgrenzen der Bundesrepublik »Asien« beginnt und damit Schrecken, Terror, Not und Zivilisationslosigkeit.

Der erste Band widmet sich der Beschreibung und Interpretation von rund 600 Jahren deutscher Geschichte, der zweite Band kümmert sich ausführlich um den kurzen Zeitraum der Jahre 1933 bis 1990. Dabei wird der Holocaust eher beiläufig als der Höhepunkt einer Barbarei dargestellt, die vor allem das Resultat einer Ostorientierung des Reiches sei. Penetrant betont der Sozialdemokrat die Rolle, die seine Partei dabei gespielt habe, Deutschland den »Weg nach Westen« zu weisen. Wird die ältere deutsche Geschichte knapp, sachlich und beinahe im Stil eines Lexikonartikels gerafft, verlangsamt Winkler mit der 1848er Revolution und der Reichsgründung 1871 sein Tempo. Denn hier kommt die SPD ins Spiel.

Liebevoll führt Winkler seine Figuren ein, beschreibt etwa den jungen Reichstagsabgeordneten Kurt Schumacher, der 1932 mit Goebbels debattierte (und 1932 für die SPD noch kaum von Bedeutung war), und erkennt in der Linie der bürgerlichen Arbeiterpartei SPD die grundsätzlich richtige Weltinterpretation. So wird Friedrich Ebert für seinen Pragmatismus gelobt, seine Entscheidung, den republikfeindlichen kaiserlichen Beamtenapparat beizubehalten, wird kaum kritisiert; Eberts und Gustav Noskes widerwärtig blutgeile Freikorps-Feldzüge gegen die Rote Ruhr und aufständische Soldaten werden milde verteidigt; die Schuld an der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts wird sogar zu einem beträchtlichen Teil den Opfern selbst zugeschrieben.

Selbstredend auch war es die richtige Entscheidung, Ende der zwanziger Jahre für Hindenburg als Präsidenten zu stimmen, während über die KPD zu lesen ist, dass sie, allein durch ihre Existenz als revolutionäre kommunistische Partei ohne Anbindung ans Bürgertum erhebliche Mitschuld am Faschismus trage.

Über das Verhalten der SPD gegen Ende der Weimarer Republik heißt es hingegen: »Allein die Sozialdemokraten hielten dem massiven Druck stand und retteten so nicht nur die eigene Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Republik.« Punkt und aus. Warum aber die SPD ihre Anhängerschaft nicht gegen Hitler mobilisierte, ja, warum im Gegenteil so viele Deutsche Hitlers willige Helfer wurden, erklärt Winkler nicht.

Es folgt der übliche Totalitarismusklimbim, also der Vergleich von Stalin und Hitler, es wird betont, dass die DDR eine Diktatur ohne Legitimation und ohne größere - wie auch immer kritisierbare politische - Idee war; dass Brandt sein Bestes gab, Schmidt ein großartiger Staatsmann und Helmut Kohl nur ein machtgieriger Idiot war. Dann folgt die für Winkler entscheidende Zäsur: dieWiedervereinigung. Rund zehn Jahre später erhält das wiedervereinigte Deutschland auch noch einen sozialdemokratischen Kanzler, und die Geschichte hat aufgehört, falsch zu sein.

An diesem Punkt gebärdet sich der Historiker, als erblicke er in der derzeitigen Regierung den Weltgeist. Auf jeden Fall aber erscheint sie ihm als die deutsche Regierung, die einen modernen Staat verwirklichen kann, den man mit einer guten Portion Nationalstolz betrachten dürfe. Auch der Historikerstreit scheint von nun an obsolet. Da die deutsche Geschichte in der Wiedervereinigung im Hegelschen Sinne aufgehoben worden sei, könne man alle bisherigen »deutschen Sonderwege« zwar bedauern, das Problem allerdings getrost ad acta legen.

Soviel Beifall lässt sich die Schröder-Regierung natürlich gern gefallen. Zur Buchpremiere in Berlin kamen nicht nur die halbe Evangelische Akademie und der Pfarrer und Stasijäger Joachim Gauck, auch der grüne Vizekanzler und Außenminister Joseph Fischer ließ es sich nicht nehmen, den Regierungshistoriker zu loben. Man plauderte locker miteinander, versöhnte sich nochmals öffentlich mit Deutschland und seiner »schwierigen« Geschichte und versicherte sich gegenseitig, dass Deutschland gerade mit seiner Teilnahme am Nato-Bombardement gegen Serbien bewiesen habe, wie zivilisiert und »erwachsen« es geworden sei. Die Jugendeskapaden der Deutschen wurden von den geselligen Herren mit dem schönen Wort »Hitlerei« zusammengefasst. Zugleich warnte Fischer davor zu glauben, jetzt sei schon alles ganz prima. Diese Regierung, ließ er uns wissen, befinde sich tagtäglich im Kampf für das Gute. Und die deutsche Geschichte darf nicht enden, bevor dieser Streber sich einen prominenten Platz in ihr gesichert hat.

Der eigentliche Widerspruch in Winklers Geschichtssicht fiel auch an diesem Deutschlandabend niemandem auf. Wenn es so wichtig ist, dass auch die einstmals zum »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« gehörigen Gebiete zivilisiert und verwestlicht werden, muss man sich fragen, warum Winkler ausgerechnet die Deutsche Einheit so bejubelt. Behauptet er doch selbst, dass die Sehnsucht nach dem »Reich« jeder bürgerlichen Emanzipationsbewegung im Wege stand und Deutschland darum an den Westen gebunden werden musste. Grenzte Frankreich an Polen, wäre die Zivilisation bereits hier.

Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte. 2 Bände, Beck, München 2000, 652 und 742 S., je DM 78