Militär-Bericht über »Verschwundene«

Poker um die Wahrheit

Ein Bericht des chilenischen Militärs über die »Verschwundenen« der Diktatur dient als Druckmittel im Pinochet-Prozess.

Seit Monaten bekämpft die chilenische Justiz ihren Ruf, sie sei blind gegenüber den Verbrechen der Pinochet-Diktatur. Am vergangenen Freitag konnte Staatsanwalt Hector Carreno stolz verkünden, man habe menschliche Knochen in Cuesta Barriga gefunden, einem Ort, der etwa 25 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt liegt.

Zwei Wochen lang hatte eine Kommission aus Gerichtsmedizinern, Staatsanwälten und Angehörigen von Diktaturopfern ein Gelände von etwa zwei Quadratkilometern in der Nähe von Cuesta Barriga durchkämmt. Sie waren auf der Suche nach einem geheimen Friedhof der Militärs, in dem die Leichen von mindestens sechs führenden Funktionären der KP Chiles begraben liegen sollen, die 1976 »verschwunden« waren. Carreno konnte allerdings keine Aussagen darüber machen, ob es sich bei dem Fund um die Überreste von mehr als einer Person handelt. Wahrscheinlich sei jedoch, dass der Tod vor 20 bis 30 Jahren eingetreten ist. Die Sachverständigen der Gerichtsmedizin veranschlagten eine Woche, um die Knochen zu identifizieren.

Bereits am 4. Januar hatte die Armee dem sozialdemokratischen Präsidenten Ricardo Lagos einen lange erwarteten Bericht über den Verbleib der 1198 während der Diktatur von 1973 bis 1990 zunächst verhafteten, dann »verschwundenen« Personen übergeben. Die Dokumente enthielten wenig Konkretes, u.a. jedoch vage Hinweise auf zwei geheime Friedhöfe der Armee. Der eine soll sich bei Cuesta Barriga befinden, etwa zehn Menschen sollen dort nach ihrer Exekution begraben worden sein. Das andere Grab soll auf dem Militärgelände von Peldehue zu finden sein und 20 menschliche Skelette bergen.

Der mit großen Hoffnungen verbundene Armeebericht ist das Ergebnis des so genannten Dialogforums. Das hatte u.a. Vertreter der Streitkräfte, der Polizei, der Kirchen, der Regierung sowie einige Menschenrechtsanwälte an einen Tisch gebracht, um die so genannte nationale Versöhnung voranzutreiben und Informationen über das Schicksal der »Verschwundenen« zusammenzutragen (Jungle World, 26/00).

Die chilenische Variante der Wahrheitsberichte hat jedoch einige Schönheitsfehler. Zunächst gibt sie lediglich über etwa 200 »verschwundene« Oppositionelle Auskunft. Davon sind den Dokumenten zufolge 170 von der Armee ins Meer geworfen worden. Mit dieser Aussage entziehen sich die Militärs vor allem der strafrechtlichen Verfolgung: Nicht unter die Amnestie, die sich Pinochet selber spendiert hatte, fallen Verbrechen, die mit der interpretierbaren juristischen Formel der »secuestrados permanentes« (Personen, die nach ihrer Entführung nicht mehr auftauchen) umschrieben werden. Mit der Benennung ihrer Todesursache aber kann eine Person juristisch nicht mehr als »permanent entführt« gelten. Der Preis für die Übergabe des Dokuments war zudem, dass keine Namen von Militärs, die für Morde verantwortlich sind, genannt werden. Und nach wie vor streiten die Militärs die Existenz eines systematischen Plans zur Eliminierung der Opposition ab. Immerhin enthält das Dokument erstmals das formale Bekenntnis, dass »Einzelpersonen« aus dem Militär »Exzesse« oder »Irrtümer« begingen.

Vor allem Vertreter von Menschenrechtsorganisationen sehen in dem Bericht ein taktisches Manöver der Militärs, um die Regierung unter Druck zu setzen, den drohenden Prozess gegen Pinochet zu verhindern. »Die Übergabe des Berichtes war eine Versöhnungsgeste der Militärs. Jetzt muss die Regierung mit einer Geste ihrerseits Bereitschaft zur nationalen Versöhnung zeigen«, äußerte ein Vertreter der ultrarechten Pinochet-Stiftung nach Bekanntwerden der Dokumente. Mireya Garcia, die zweite Vorsitzende der bekanntesten chilenischen Menschenrechtsorganisation Agrupacion de familiares de detenidos desaparecidos (AFDD), bemerkte desillusioniert: »Sie verlangen, dass wir uns mit der Geschichte der über dem Meer abgeworfenen Körper zufrieden geben; und das heißt, sich damit abzufinden, dass wir die Überreste unserer Angehörigen niemals finden werden.«

Indes gehen die juristischen Auseinandersetzungen um Pinochet in die nächste Runde. Am 23. Januar konnte der Ermittlungsrichter Juan Guzman ihn eine halbe Stunde lang in seiner luxuriösen Residenz im hügeligen Umland der Hauptstadt Santiago befragen. Zuvor hatte Pinochet einer umfassenden medizinischen Untersuchung zugestimmt. Ein Team aus Gerichtsmedizinern, Sachverständigen der Klägerseite und der Verteidigung kam darin überein, dass der ehemalige Chef der chilenischen Militärjunta an einer leichten Altersdemenz leide, grundsätzlich aber vernehmungsfähig sei. Guzman wirft Pinochet geistige Urheberschaft an der so genannten Todeskarawane vor, bei der im Oktober 1973, einen Monat nach dem Militärputsch gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende, 75 führende politische Oppositionelle von den Sicherheitskräften entführt und vermutlich ermordet wurden. Guzman betreut auch die inzwischen 214 weiteren Klagen gegen den ehemaligen Diktator.

Beim Treffen mit Guzman war Pinochet nicht bereit, auf mehr als vier der vorbereiteten 15 Fragen zu antworten und wiederholte immer wieder: »Ich bin kein Verbrecher, die Verantwortung für die Verhaftungen trugen die Kommandeure der betreffenden Garnisonen.« Obwohl es ihm unmöglich sei, sich an alles zu erinnern, »weiß ich doch ganz sicher, dass ich zu keinem Moment die Erschießung von irgend jemandem anordnete.«

Joaquin Lagos Osorio, ein anderer hoher General im Ruhestand, der damit prahlt, ein Dissident der Militärherrschaft Pinochets zu sein, ist anderer Ansicht. Osorio arbeitet seit langem mit der chilenischen Justiz zusammen. Bereits 1986 gab er erstmals öffentlich eine Erklärung ab, 12 Jahre nachdem er die Streitkräfte verlassen hatte. »In dem Augenblick, als ich Pinochet am Tag nach der Todeskarawane (18. Oktober 1973) von den Ereignissen berichtete, bat ich ihn, meine Versetzung in den Ruhestand anzuordnen, weil ich in dieser Armee nicht länger dienen wollte«, heißt es darin. Bei Pinochets Putsch war Osorio noch oberster Befehlshaber der ersten Militärdivision.

In einem Exklusivinterview, das er kürzlich dem chilenischen Fernsehsender TVN gab, versicherte er: »An der Verantwortung der Kommandoebene des Militärs kann kein Zweifel bestehen. In Kriegszeiten müssen die untergeordneten Militärs strikt die Befehle der Vorgesetzten befolgen. Wer sich weigert, Befehle auszuführen, hat mit harten Sanktionen bis hin zur Erschießung zu rechnen. Deshalb ist Pinochet als ehemaliger Oberster Befehlshaber der chilenischen Streitkräfte verantwortlich für das, was geschehen ist.«

Lagos Osorio plagen indes keine Schuldgefühle: »Ich habe einen ruhigen Schlaf und ein reines Gewissen.«