Jon Savage über Punk und Duffy Power

Man muss nicht Reginald Blocks heißen

Punk ist ein verdrängter Moment in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung. Der situationistische Angriff auf die Gesellschaft und den Mainstream gewordenen Teil der 68er spielte mit den Zeichen und ihren repressiven Zuordnungen. Punk war, solange er mehrdeutig blieb, unschlagbar und radikal. Als die Grüppchen den künstlerisch-subkulturellen Raum verließen, führte dies zu einer ungeheuren gesellschaftlichen Polarisierung. In England's Dreaming schrieb Jon Savage eine Sozialgeschichte des Punk aus der Perspektive der Beteiligten. Über das gesellschaftliche Beziehungsgeflecht seiner Entstehung spricht er im folgenden Interview.

Julian Weber: In Ihrem Buch bezeichnen Sie Punk als eine medienkritische Bewegung. Was war bei Punk anders als bei vorangegangenen Jugendbewegungen wie den Hippies?

Jon Savage: Auch die amerikanischen Hippies waren bereits sehr medienbewusst. Es gab viele Gemeinsamkeiten zwischen Hippies und Punks. Punk entwickelte jedoch ein Bewusstsein für die Art, wie die Medien die Themen anpacken, verzerren und schließlich killen. Daran übte man Kritik und war zugleich davon fasziniert. Das konnte man der Musik anhören. Oder all diese Bandnamen: Magazine, The Adverts, Television. Das Thema der Massenmedien zieht sich durch Punk wie ein roter Faden. Die Musik handelte davon. Es war ein unterschwellig verbreitetes Wissen. Guy Debord betrachtete in der Gesellschaft des Spektakels die Kulturindustrie als eine Hauptantriebsfeder für die Wirtschaft. Mir gefiel, dass Punk 1976 anfing, Presse und Fernsehen offen anzugreifen. Das war völlig berechtigt und war ja auch das Großartige daran.

Sie haben Guy Debord erwähnt. War der Einfluss des Situationismus auf Punk wirklich so stark? Insbesondere Johnny Rotten bezeichnete den Mode- und Kunsthintergrund einmal abfällig als nachträgliche Erfindung.

England's Dreaming erzählt zunächst von Malcolm McLaren und Vivien Westwood. In deren Laden hat die Geschichte der Sex Pistols begonnen. Die nannten sich ja nicht einfach so »Sex Pistols«. Nein, sie hießen nach diesem Laden und sie waren die Hausband dieser Boutique mit Namen »Sex«. McLaren und Westwood haben die Band zusammengesucht. Punk beginnt in diesem Laden und die Sex Pistols waren die erste Punkband. Ich würde sagen, dass sowohl Johnny Rotten wie auch Greil Marcus falsch liegen. Und zwar aus einem einfachen Grund. Johnny Rotten und die anderen Sex Pistols wurden von McLaren und dem Umfeld von »Sex« mit Ideen gefüttert. Die Sex Pistols waren nicht einfach Teenager aus der Arbeiterklasse, die für Teenager aus der Arbeiterklasse spielten. Sie kommunizierten und tauschten sich mit Leuten aus, die die sechziger Jahre erlebt hatten. Johnny Rotten war derjenige, der gesungen hat und seinen Part auf der Bühne fantastisch spielte. Dafür hat er auch eine Menge Ärger kassiert. Aber er hat das nicht alles ganz alleine zu verantworten. Auch wenn die theoretische Verbindung zum Situationismus damals recht schwach war und nur wenige darüber etwas Genaueres wussten. Der Situationismus ist dennoch ein wichtiger Bestandteil von Punk, genauso wie Glam Rock, Pop Art oder Prank-Ideen aus der US-amerikanischen Gegenkultur. Punk bezog sich am Anfang vor allem auch auf Andy Warhol in New York. Warum Warhols Einfluss auf Punk häufig unterschlagen wird, war für mich nie nachvollziehbar. Als ich die Pistols im November 1976 zum ersten Mal sah, erschienen sie wie eine Version von Warhols Factory, nur eben zehn Jahre später und nach England verpflanzt.

Wie haben Sie die ersten Punk-Konzerte in England wahrgenommen?

Es gab auf diesen ersten Konzerten eine Menge verwegen aussehender Kids. Einigen von ihnen sah man schwerwiegende Probleme an, so wie mir auch. Der Saal war voller Kameras, voller Glitter. Es wurde heftig herumposiert. Man tat das alles mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein und auch Gewalttätigkeit. Was die Pistols für mich auf der Bühne wirklich darstellten, war eine Band von Sado-Masochisten. Sado-Masochismus war eine Möglichkeit, einen öffentlichen Skandal zu provozieren. Der Einfluss des Situationismus war aber deshalb so wichtig, weil er Punk bis heute eine spürbare antiautoritäre Stoßrichtung gibt. Punk ist gegen die Massenmedien, gegen den Konsum und das große Geschäft. Und vor allem gegen die Gesellschaft des Spektakels! Und auch wenn die Musik heute, nach 25 Jahren, entsetzlich alt klingen mag, stecken da immer noch viele Ideen drin.

Sie schreiben, dass für die Entstehung von Punk der englische Rock'n'Roll und die Erfahrungen eines Impresarios wie Larry Parnes ebenfalls von großer Bedeutung waren.

Für McLaren war Parnes das Stereotyp des schmierigen Managers. Das gefiel ihm. Parnes' Geschäftspraktiken waren äußerst manipulativ und er schrieb seinen Popstars alles vor. Zu einem gewissen Teil ist er der Erfinder des britischen Pop. Das war ja keine eingeborene Form in England, alles war aus den USA übernommen. Parnes versorgte seine Figuren mit einer Extra-Injektion Fantasie. Parnes war schwul. Er entstammte einer alten Hinterzimmer-Showbusiness-Tradition. Er begriff schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, 1954, während er die Teenager bei der England-Tour des US-Sängers Johnny Ray ausrasten sah, dass es einen hausgemachten Markt für britische Talente gibt. Er gabelte all diese bodenlos schlechten Elvis-Imitatoren und englischen Rock'n'Roller auf und gab ihnen wundervolle Künstlernamen. So wie später Warhol und danach die Punks. Es ist die Idee von der Umformung der Identität. Man muss nicht Reginald Blocks heißen, man kann sich auch Marty Wild nennen. Oder Billy Fury, oder Duffy Power. So nannte er seine Stars. Das waren technisch noch rohe Namen, aber die Transformation ist das Entscheidende. Die Hartnäckigkeit, mit der ein schwuler Manager künstlich zusammengesuchte Popgruppen konstruiert, zieht sich durch die Popgeschichte. Und es gibt eine nicht ganz falsche Formel, nach der schwule Manager Musik für junge, meist weibliche Teenager erfinden. Sehr konstruiert und plastikmäßig, aber ganz echt. Viele von Parnes' Gruppen waren Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre sehr erfolgreich. Mc Laren wollte auch gerne ein so manipulativer Manager sein und einer Gruppe vorschreiben, was sie zu tun hat. Aber die Sex Pistols ließen sich dann nicht so einfach herumkommandieren. Eine Generation nach Duffy Power wollte sich niemand mehr so behandeln lassen.

Punk hat seine volle Dynamik in England entfaltet. Warum nicht in New York im Anschluss an Warhol?

In New York fing es früher an. Es gab Richard Hell, Television oder die Ramones. Die Leute, die sich in England für Punk interessierten, waren im Durchschnitt etwa zehn Jahre jünger. In England ging es weniger um Poesie: Richard Hell war beispielsweise sehr von Literatur beeinflusst. Rimbaud, solche Sachen. Oder nimm den Television-Song »See No Evil« mit der Zeile »I understand all destructive urges«. Was für ein himmelweiter Unterschied zu den Sex Pistols und »Anarchy in the UK« und »get pissed, destroy!« In New York sang man distanziert, man beobachtete, während sich englische Bands in ihre Texte regelrecht reinsteigerten. Aber vor allem hat England eine kleine und zentralisierte Popökonomie. Ein Hype erfasst sofort das ganze Land, und es geht sehr schnell. So etwas wie mit Punk in England könnte in New York - und in den restlichen USA - gar nicht passieren. Außerdem gab es in England 1976/77 eine sehr lebendige Musikpresse. Man landete auf dem Cover eines Magazins, und das ging sofort landesweit zu den Kids hinaus. Wenn eine Band bei »Top of the Pops« im Fernsehen auftritt, wird das durchschnittlich von ein Fünftel der Bevölkerung verfolgt. Pop in England ist Volkskultur, sie wird sehr schnell weitergetragen, dann geht es in die Charts und in die überregionalen Mainstream-Medien. US-Punk war dagegen kein landesweites Phänomen. Das änderte sich erst 1991 mit Nirvana, also 14 oder 15 Jahre, nachdem Punk in England begonnen hatte.

In Ihrem Buch kommen Sie als teilnehmende Person nicht unmittelbar vor, obwohl Sie als Journalist und Zeitzeuge dabei waren. Warum haben Sie nicht einfach eine autobiographische Erzählung verfasst?

Ich glaube nicht an den Sinn und Zweck von Bekenntnisliteratur und hätte eine Autobiographie langweilig gefunden. Ich habe stattdessen sehr viele Beteiligte von damals interviewt. Ihre Aussagen machen den Löwenanteil von England's Dreaming aus. Zu einem gewissen Teil ist es also ihr Buch. Ich möchte ihre Geschichte erzählen. Es ist einfach interessanter, über die Pistols zu erzählen als über mich. Deswegen ist nicht viel »von mir« in dem Buch.

Punk trat aus der Subkultur und wurde ein Phänomen der Massenmedien. In diesem Moment wurde die Bewegung auf Eigenschaften wie dumm, hässlich oder gewalttätig festgelegt.

Bei allen Pop- und Modestilen kommt irgendwann der Zeitpunkt, bei dem das Besondere und Mysteriöse von den Massenmedien aufgesogen, verzerrt und definiert wird. Bei Punk ging es rasend schnell. Die frühen Punk-Konzerte, die ich miterlebt habe, waren hingegen sehr dramatisch und aufregend. Das Publikum verstand die Bands nicht. Es hasste die Bands auf der Bühne. Es kam zu Gewalttätigkeiten, aber nur zwischen Bands und Publikum. Punk spielte mit hohem Einsatz, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Dann wurde er zu einem interessanten Beispiel, wie die Massenmedien die Ideen einer Avantgarde-Bewegung verhackstücken können.

Die englische Gesellschaft war in den Siebzigern auch politisch sehr polarisiert.

Der Faschismus war ein Thema, die National Front agierte offensiv. 1976 brachen beim Notting Hill Carnival Krawalle aus. Vor allem schwarze LondonerInnen rebellierten gegen die Diskriminierung durch die englische Gesellschaft. Und dann sprach Punk den verlogenen Umgang Englands mit seiner Vergangenheit politisch offen aus. Wenn man 1975 jung war, konnte es einem nicht verborgen bleiben, dass Britannien eigentlich den Krieg verloren hatte. Das Land war in einem erbärmlichen Zustand. Aber dennoch sprachen die Massenmedien und unsere Väter von nichts anderem als dem Sieg im Zweiten Weltkrieg und dem glorreichen Empire. Diese Nostalgie war schrecklich. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht stolz auf den Kampf gegen Hitler war. Aber die Darstellung des Ganzen war verlogen. Punk war da doch viel realistischer: »Give me World War 3!« Nimm dagegen die Euro 2000: Die Hooligans berufen sich bis heute auf Britanniens glorreiche Vergangenheit.

Wie waren die Reaktionen, als Sie Ihr Buch 1992 in England veröffentlichten?

Als ich es schrieb, wollte zunächst niemand davon hören. Die Leute, die mit Punk zu tun hatten, reagierten genervt und sagten: »Nein, nicht schon wieder, wie langweilig.« Aber ich denke, neben anderen wie dem von Legs McNeill über Punk in New York (Please Kill me) oder Edie von Jean Stein und George Plimpton (über die Factory-Ikone Edie Sedgwick) hat England's Dreaming sicherlich seinen Platz gefunden. Ich habe um die Interviews herumgeschrieben, sie stark redigiert wiedergegeben und vom Erzähltext abgesetzt montiert. Legs McNeill hatte mit seinem Buch offenbar anderes im Sinn. Er reiht so viele Sex- und Drogen-Anekdoten wie möglich aneinander. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Mir wurden sehr bizarre Geschichten erzählt, die ich aber für das Buch nicht verwendet habe. Ich möchte nicht sleazy sein.

* Jon Savage ist 47 Jahre alt und lebt in Manchester.

Julian Weber ist Kulturredakteur der schweizer Wochenzeitung WoZ. Er traf Jon Savage im März in Manchester.