Proteste gegen die Globalisierung

Bewegt euch endlich!

Die Globalisierungskritik basiert auf einem neuen Politikverständnis. Es geht nicht mehr darum, die Macht zu ergreifen, sondern die Selbstregierung zu organisieren.

Bei der Frage, was diese merkwürdige globale Bewegung gegen den Neoliberalismus ist und wohin sie sich bewegt, sind vor allem zwei Dinge zu berücksichtigen.

Zunächst: Wir stehen erst am Anfang. Schlüsse, die wir jetzt daraus ziehen, was wir bisher gesehen haben, können sich schon bald als falsch erweisen. Schließlich ist die Konferenz von Seattle noch nicht einmal zwei Jahre her, und der Aufstand der Zapatisten im Chiapas, mit dem die Bewegung begann, liegt gerade mal sieben Jahre zurück. Wir befinden uns in dem Moment, da der Gong den Beginn der Vorstellung ankündigt, der Vorhang muss sich noch heben.

Als zweites ist zu bemerken, dass diese Bewegung große Unterschiede von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent aufweist, auch wenn es beeindruckend ist, in welchem Maße bestimmte Verhaltensweisen und Symbole mittlerweile verbreitet sind. Tatsächlich gehört zu den auffälligsten und neuartigsten Merkmalen dieser Bewegung, dass sie gleichzeitig viele Gemeinsamkeiten, aber auch große Unterschiede in sich vereint und beide Aspekte betont.

Denn nicht nur zwischen den Staatschefs kursieren die Informationen ohne Verzögerung. So gingen beispielsweise in Göteborg die finnischen Tute bianche auf die Straße, während man in Mexiko über die italienischen Tute bianche diskutierte, die sich als Marcos' Leibgarde am Marsch der Zapatisten auf die Hauptstadt beteiligten. Offenbar gewinnen die lokalen Unterschiede, Kulturen und Traditionen an Bedeutung, während die Bewegung ihren Lauf nimmt und sich schließlich in ihren derzeitigen Formen wieder auflösen wird, wenn sie ihr eigentliches Ziel erreicht hat: eine allgemeine demokratische Partizipation in neuen, bisher noch unbekannten Formen.

In Italien verausgaben sich in ihren Kommentaren diejenigen, die schon alles gesehen und erlebt haben: Linke, die nicht glauben, das noch etwas Neues passieren könnte, das ihre Überzeugung in Frage stellt. Sie meinen: Aha, hier hat sich ein neuer Ritus gebildet. Einem Gipfel wird ein Gegengipfel entgegengesetzt, einer Konferenz der Mächtigen ein Forum der Zivilgesellschaft, und gegen die Polizeispaliere rennen die Demonstranten an. Diese Beharrlichkeit und die Unbeweglichkeit der linken Kultur, die jede neue Erscheinung in die alten Schubladen steckt, scheint vor allem eine italienische Spezialität zu sein. Egal, ob der Konflikt oder die Vermittlung mit den Institutionen gesucht wird - die Politik findet innerhalb der nationalen Grenzen statt. Dies ist die Schwelle, auf der die italienische Linke stehen geblieben ist; sie macht weder einen Schritt nach vorne noch nach hinten. Paradox ist jedoch, dass diese Politik, die sich derartig in den Köpfen festgesetzt hat, genau das Gegenteil hervorbringt.

Zweifellos haben die Ereignisse von Seattle in Italien eine neue Welle des Widerstands ausgelöst. Zum einen ist der Feind erkannt. Es war schon immer tröstlich zu wissen, wo sich die Macht konzentriert, wo man sie treffen oder es zumindest versuchen kann. Daher die Flut von Veranstaltungen und Diskussionen, die seitdem losgebrochen ist.

Im letzten Jahr wurden mit erstaunlicher Geschwindigkeit unzählige Gegenveranstaltungen organisiert: gegen die Nato in Florenz, gegen die OSZE in Bologna, gegen die Treffen zur Balkanpolitik in Ancona, gegen die multinationalen Gentechnik-Konzerne in Genua, noch einmal gegen die OSZE in Neapel und so weiter.

Neu ist jedoch, dass der Feind nicht mehr in »dem Bürgertum« gesehen wird. Denn das nationale Bürgertum, falls es überhaupt noch existiert, ist zu einer Variablen geworden, die von den internationalen Finanzmärkten und den multinationalen Konzernen abhängig ist. Auch nicht mehr in »dem Staat«, der sich ebenfalls dem Globalisierungsprozess untergeordnet hat.

An dessen Stelle sind die nur wenig durchschaubaren Konzentrationspunkte der transnationalen Macht getreten. Tatsächlich hat die Mobilisierung gegen diese oder jene globale Institution vor allem ein Ziel. Keine dieser Institutionen hatte eine Legitimation bzw. die Zustimmung, um derartige Macht auszuüben. Es gibt also ein demokratisches Problem auf globaler Ebene, bei dem keiner weiß, wie man es lösen könnte. Dagegen ist eine Opposition entstanden. Spätestens die Proteste in Prag gegen die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF) und gegen den EU-Gipfel in Nizza, zu denen vielen Globalisierungskritiker aus Italien angereist sind, haben endgültig entschieden, dass sich der Feind in diesen Institutionen jenseits der nationalen Macht befindet. Das bestätigen auch die heftigen Reaktionen auf die Proteste.

Neben dieser Bewegung der Gipfel-Hopper ist gleichzeitig eine andere Bewegung in Schwung gekommen, die sich aus denselben Personen zusammensetzt und die dennoch konzeptionell anders arbeitet: die kleinen Gruppen und Bürgerinitiativen, die sich gebildet haben, um gegen einen bestimmten Missstand anzugehen. Bisher lösten sich diese Gruppen zumeist wieder auf, wenn ihre Proteste ins Leere liefen. Was blieb, war die Erfahrung, sich mit unterschiedlichen Kräften für gemeinsame Ziele verbündet zu haben, ohne die eigenen Besonderheiten aufzugeben. Dabei wurden Formen gefunden, die zwar nicht alle zusammenbringen konnten, bei denen aber auch nicht alle sofort zur Verantwortung gezogen wurden, wenn jemand einen Fehler machte.

In diesen Zusammenschlüssen wurde nicht nur demonstriert, sondern auch herausgearbeitet, warum das jeweilige Gipfeltreffen problematisch war: beispielsweise die Folgen der Instabilität auf dem Balkan für die Regionen rund um die Adria oder die prekären Arbeitsverhältnisse in den kleinen Unternehmen in der Emiglia Romana, als sich die OSZE zum Thema Flexibilisierung der Arbeit in Bologna traf.

Anfang dieses Jahres haben das Weltsozialforum in Porto Alegre und der Marsch der Zapatisten in Mexiko die Fantasie vieler dieser kleinen Gruppen angeregt. Die Botschaft, die von der anderen Seite des Atlantiks herübergeschwappt ist, lautet: Politik bedeutet nicht, die Macht zu ergreifen und gegen den Staat zu kämpfen, indem man eine Arbeiterarmee aufstellt, sondern die Selbstregierung zu organisieren, wie die Zapatisten sagen. Die Stadt Porto Alegre wurde zum Symbol für die Selbstregierung. Durch eine Beteiligung am Haushaltsetat findet in der Stadt neben den regelmäßigen Wahlen der Kommunalverwaltung eine Form der direkten Demokratie statt.

Diese Botschaft ist in der politischen Tradition Italiens auf einen fruchtbaren Boden gefallen. Für viele scheint dies die Antwort auf die Frage: Was können wir hier, wo wir leben, in unserer Stadt gegen die Probleme der Globalisierung tun? Als Konsequenz versuchen viele Anti-irgendwas-Gruppen, sich umzuformen und das Modell Porto Alegre und die Erfahrungen der Zapatisten zu berücksichtigen. Damit verbunden ist oft auch der langwierige und zwiespältige Dialog mit den Institutionen. In vielen Kommunen haben sich Netzwerke gebildet, die auch Kandidaten bei den Kommunalwahlen im Mai aufgestellt haben. Auch wenn diese Anstrengung zumeist ohne Erfolg geblieben ist, steht das Thema zur Diskussion.

Ich halte es für einen glücklichen Umstand, dass diese beiden Entwicklungen zeitlich zusammenfallen. Auf der einen Seite rufen zahlreiche Organisationen zu Protesten in Genua auf, und zugleich entsteht ein Bewusstsein von den Gefahren des Neoliberalismus. Umfragen zeigen, dass mindestens die Hälfte der Italiener und Italienerinnen die Kritik des »popolo di Seattle« teilt. Die beiden Tendenzen könnten sich weiter ausbreiten als Versuch und Wunsch, die Städte zurückzuerobern. Dabei könnte der nationale Koordinationsrat des G 8-Protestes, das Genua Social Forum, eine wichtige Rolle spielen. Sei es in Form einer autonomen Partizipation in den Stadtverwaltungen oder in Form einer sozialen Opposition gegen die rechte Regierung. Schon jetzt tritt dieses Netzwerk Tag für Tag in seiner ganzen Pluralität als antagonistischer Verhandlungspartner der neuen Regierung auf.

Vielleicht erleben wir diese dritte Phase in der anti-liberalistischen Bewegung in Italien schon in diesem Herbst. Es ist zu hoffen, dass sich diese Bewegung selbst abschaffen wird, so, wie Marcos es für die zapatistische Armee vorsieht. Allerdings muss sich die Bewegung weiterentwickeln, wenn sie sich an die Mehrheit der Italiener richten und sie in der einen oder anderen Form einbinden will in eine Opposition oder wenn sie eine demokratische Partizipation möglich machen will. Denn die derzeitigen Strukturen, die Gruppen, ihre Sprache, ihre analytischen Fähigkeiten, um nur einige Beispiele zu nennen, werden dafür nicht ausreichen.

Doch bekanntlich lernt man, indem man handelt. Das letzte Beispiel ist der unvorhersehbare große Erfolg der ersten nationalen Versammlung von Attac in Italien. Immerhin haben wir schon einiges getan und vieles verstanden über die Welt, der wir durch die Globalisierung ausgeliefert werden. Es gibt gute Gründe, optimistisch in die Zukunft zu schauen.

Der Autor ist Chefredakteur der linken italienischen Wochenzeitung Carta und lebt in Rom.