»Ein Wunder, dass es nicht mehr Tote gab«

Ein Gespräch mit Luca Casarini, dem Sprecher der Tute Bianche und der Centri Sociali Nordost-Italiens

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vergangener Woche tauchten vor dem römischen Centro Sociale Forte Prenestino für kurze Zeit Carabinieri auf. Geraten nach den Vorkommnissen von Genua nun auch die italienischen Centri Sociali stärker ins Visier der Ordnungskräfte?

Auch wenn sich die Polizei noch zurückhält, gibt es natürlich diese Sorge. Schließlich hat die Regierung Carabinieri und Polizei in Genua bedingungslos gedeckt. So war es möglich, dass in den Kasernen und Gefängnissen geschlagen und gefoltert werden konnte. Und zumindest verbal hat die rechte Regierung bereits begonnen, die bekannteren Centri Sociali unter Beschuss zu nehmen. Jetzt, da die nationalen und internationalen Proteste ans Licht bringen, dass in Genua sämtliche Grundrechte aufgehoben wurden, müsste die Regierung ihre Fehler eigentlich eingestehen. Auch wenn ich es eher für wahrscheinlich halte, dass sie künftig noch schärfer reagieren wird. Ein Teil der Ordnungskräfte legt es jedenfalls darauf an, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt.

Hat die Polizei in Genua eine andere Strategie verfolgt als bei früheren Demonstrationen in Italien?

Die Polizei ist mit ungewöhnlicher Härte vorgegangen. Sie schien freies Spiel zu haben. Normalerweise gibt es ja Ansprechpartner auf der Straße, Verantwortliche, die den Einsatz leiten. Aber in Genua hatte ich den Eindruck, dass es nur den Befehl gab: Macht, was ihr wollt, aber verhindert, dass die Demonstranten bis zur Roten Zone durchdringen. Mir scheint, dass es unter den einzelnen Einheiten keine Koordination gab. Es war wie im Krieg: Wer gewinnt, trägt die Trophäe nach Hause. Es ist ein Wunder, dass nicht mehr Demonstranten getötet wurden. Am Freitag wurden in den Straßen um die Piazza Tommasei, wo später Carlo erschossen wurde, viele Leute von Panzerwagen angefahren und verletzt. Einer Frau sind sie über die Beine gefahren. Die Carabinieri haben nicht aufgehört, uns anzugreifen, selbst als der Demonstrationszug stehen geblieben war. Alles nur, damit niemand in die Rote Zone gelangt. Die Verteidigung dieses Bereichs war der Regierung wichtiger als ein Menschenleben.

Steht hinter der grenzenlosen Polizeigewalt eine Strategie der Spannung?

Ganz bestimmt. Italien steht ein heißer Herbst gegen die neoliberale Politik der Berlusconi-Regierung bevor, welche die Sozialleistungen und die Gesundheitsversorgung privatisieren will. Die Regierung braucht einen Freibrief, um das Militär, also die Carabinieri, einzusetzen, falls es zu Besetzungen in Schulen oder Universitäten kommt. Sie wollen mit aller Härte gegen die Arbeiter vorgehen können, falls diese in den Fabriken streiken. Genua war für die Regierung ein Versuch, ob sie die Gesellschaft militarisieren kann, ohne dabei die Gunst der öffentlichen Meinung zu verlieren.

Spätestens der Einsatz in der Schule Diaz hat unter den Aktivisten Angst und Schrecken verbreitet. Wird die Antiglobalisierungsbewegung Genua überleben?

Genua bedeutet zunächst eine Wende. Es war die größte Mobilisierung, die diese Bewegung bislang weltweit auf die Beine gestellt hat. Allerdings ist es nicht einfach für eine gerade entstandene Bewegung, einen solchen Schlag zu überleben. Deshalb würde ich in Bezug auf Genua auch nicht von einem Erfolg sprechen, sondern eher von einer Etappe: Wir haben unsere Unschuld verloren, weil wir uns unserer Rechte zu sicher waren.

Die Ausschreitungen haben auch innerhalb der Bewegung eine Debatte über die Anwendung von Gewalt ausgelöst. Was bedeutet das für die Tute Bianche?

Sicherlich müssen wir über den zivilen Ungehorsam als Aktionsform und über die politischen Strategien auch anderer Teile der Bewegung nachdenken. Keiner hatte damit gerechnet, dass uns in Genua nicht nur ein Konflikt, sondern ein regelrechter Krieg erwartet. Normalerweise schieben wir Tute Bianche uns ja nur als Masse mit unseren Schutzanzügen vor. Die haben aber nicht mehr ausgereicht, als die Polizei uns mit Panzerwagen attackiert hat.

Von Teilen der Bewegung wird nun der Schwarze Block für das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte verantwortlich gemacht.

Es ist nicht wahr, dass 200 Leute vom Schwarzen Block an allem schuld sind, und dass die Tausende anderer absolut nichts gemacht haben. Viele Leute reagierten sehr spontan, als die Polizei ihr Leben bedrohte. Es war sehr beeindruckend, wie stark der Wille, sich zu widersetzen, verbreitet war. Und obwohl wir gar nicht bis zur Roten Zone gelangt sind, hat die Polizei entschieden, uns auf der Straße zu bekämpfen. So sollte der politische Protest auf ein Problem der öffentlichen Ordnung reduziert werden.

Werden die Tute Bianche nun ihre Aktionsformen ändern?

Wir müssen uns auf einen Krieg mit dieser Regierung gefasst machen. Wenn alle Vermittlungen scheitern sollten, müssen wir auch unseren zivilen Ungehorsam und unseren Selbstschutz verschärfen. Andererseits glaube ich, dass wir uns nicht in eine Spirale der Gewalt ziehen lassen dürfen. Dieses Spiel kann nur der Staat gewinnen. Wir sollten vielmehr darüber nachdenken, was es bedeutet, das Imperium in einem Moment herauszufordern, in dem sich niemand mehr der Menschenrechte und demokratischer Freiheiten sicher sein kann.

Welche Auswirkungen wird Genua für die italienische Linke haben?

Im Gegensatz zur Situation in den USA oder in Nordeuropa ist in der italienischen Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung die gesamte soziale Linke vertreten. Für die außerparlamentarische Linke in Italien ist es selbstverständlich, Teil der Anti-Globalisierungsbewegung zu sein. Die Arbeitsweise dieser Bewegung, ihre Technik, Netzwerke zu bilden, hat die italienische Linke sehr beeinflusst. Man hat verstanden, dass man global agieren muss. Die Antiglobalisierung ist der Punkt, an dem alle zusammenkommen. Nur so konnten 200 000 Leute mobilisiert werden.

Im Fernsehen hast du vorige Woche vier Projektile präsentiert, mit denen auf den Demonstrationszug geschossen wurde. Taugen sie als Beweismittel?

Diese vier Projektile werden ebenso wie die Zeugenaussagen derjenigen, die geschlagen und gefoltert wurden, in einem großen Weißbuch gesammelt, das wir noch vor Oktober fertigen stellen wollen.