Guy Debord, die Avantgarde und Socialisme ou Barbarie

Porträt der Fiktion als mögliche Gegenwart

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Formen revolutionärer Praxis und linker Konstruktion von Öffentlichkeit sind in den letzten Jahren immer wieder diskutiert worden, und insbesondere die Abhängigkeit radikaler oder militanter Aktionen von ihrer Verbreitung in den Medien hat oft dazu geführt, am Einsatz für einige isolierte Bilder zu zweifeln. In diesem Zusammenhang wird gern auf die Kritik der Situationisten Bezug genommen, ihre Definition des planetaren Lebens als »eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen. Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen in einem gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens nicht wiederhergestellt werden kann.« Sogar bürgerliche Kommentatoren bedienen sich dieser Distanzierung, wobei eine plakative Verkürzung ihnen genügt. Sie rechnen sich ihre Kunst der Entzauberung erschreckender oder faszinierender Bilder als nüchternen Scharfblick an; man fragt sich nur, zugunsten welcher Erkenntnis sie weiße Tauben und schwarze Halstücher auseinanderziehen, passt ihr Unterscheidungsvermögen doch sehr schön zu den Forderungen, deren Erfüllung auch die Staatsgewalt als Bedingung ihrer Gutwilligkeit verstanden wissen will. Bei Debord ist im Übrigen zu lesen: »Zur wirklichen Zerstörung der Gesellschaft des Spektakels bedarf es der Menschen, die die praktische Gewalt aufbringen.«

Der Rückstand der Linken

Wie genau kalkuliert die Situationisten ihr Erscheinen an ganz bestimmten ästhetischen Kriterien ausrichteten, ist immer noch schwer zu vermitteln, denn die politische Linke hat traditionell Schwierigkeiten mit der formalen Seite ihrer Aktivitäten; zumeist erkennt sie an dem, was sie tut oder schreibt, und daran, wie sie lebt, keinerlei künstlerischen Wert. Eine voluntaristische Aneignung von Kunst hilft da wenig. So wurden im Laufe der neunziger Jahre Protestaktionen auf ihre mediale Ansichtsseite hin durchdacht, aber dieses Arrangement kippt leicht in vorauseilenden Gehorsam um, wenn die herbeigerufenen Kommentatoren es als nett vorgetragenen Verzicht auf das lesen dürfen, worüber sie sich sonst so stereotyp ereifern. Die Bittstellerei der Phantasie am Hof der neuen Macht wirkt im Übrigen auch naiv, weil die Medien sich den überraschenden Einfallsreichtum gern als Ergebnis ihrer Schulung zuschreiben. Sie kommen vielleicht unwillig zu dem etwas eigenmächtig anberaumten Castingtermin, vergeben dann jedoch gnädig ihre Noten; und warum sollten sie nicht die Professoren spielen, sind die Medien mittlerweile doch zu einem Ausbildungssystem aufgestiegen, das die Universität zusammen mit den Fragen der Privatisierung diskussionslos deklassiert. Am Ende der fünfziger Jahre befand man sich demgegenüber noch in einer Steinzeit und der Rückstand der Linken im Umgang mit den Medien und dem künstlerischen Wert der eigenen Praxis war viel deutlicher zu spüren. Während die Hefte antistalinistischer Gruppierungen - einfarbiger Umschlagkarton, keine Illustrationen, auf billigem Papier und in Schreibmaschinentype gedruckt - wie ärmliche Hütten aus einem anderen Jahrhundert zusammengeschustert wurden, wirkten die Ausgaben der Internationale Situationniste in ihrem glänzenden Chassis wie Weltraumkreuzer.

Daniel Blanchard alias P. Canjuers gehörte 1959 in Paris zur Gruppe Socialisme ou Barbarie, und wenn er sich knapp 40 Jahre später an den Tag erinnert, an dem er zum ersten Mal die situationistische Zeitschrift in der Hand hielt, beschreibt er nicht irgendeinen Augenblick: »Es gibt Momente im Leben, die herausragen, wie aus einer festeren Textur, gezeichnet in stärkeren Linien, die zur Verschwommenheit und Ambiguität des restlichen Lebens in Kontrast stehen. An jenem Tag - ein paar von uns gingen gerade die Post der Woche durch - stach mir diese geschliffene, elegante Publikation mit ihrem faszinierenden Cover und dem unglaublichen Titel ins Auge. Ich schnappte sie mir und begann auf der Stelle zu erforschen, was ich allmählich als ein neu entdecktes Land, eine andere Welt der Modernität wahrnahm, bizarr, aber faszinierend. Wir schlugen uns um jeden Fußbreit mit größtenteils beschämenden Gegnern, die uns im Übrigen nichts Interessantes zu sagen hatten. Und dann das: Beim Blättern in dieser absolut einzigartigen Broschüre entdeckte ich, dass uns hier eine Gruppe Unbekannter von leidenschaftlichen Dingen erzählen konnte. Sicherlich, für unseren, im marxistischen Vorgarten angeketteten Geist (auch wenn es vielen von uns darum ging, von dort auszubrechen) war das fremd, und im Vergleich zu den Botschaften, die wir anderen winzigen Gruppen schickten, verbissen in die Mission, dem stalinistischen Desaster irgendwelche Reste des revolutionären Erbes zu entreißen, vollkommen ungewöhnlich; nicht beängstigend fremd, sondern ganz im Gegenteil anziehend, unglaublich verführerisch.«

Klassenanalyse und Organisation

Socialisme ou Barbarie agierte seinerzeit noch mit einer revolutionären Perspektive als eine der wenigen Gruppierungen links von der KPF und den großen Gewerkschaften. Seit ihrer Formierung 1949 hatte sie sich nicht nur radikal gegen das sowjetische Herrschaftssystem gestellt, sondern für eine kommunistische Bewegung nach neuen Wegen der Organisierung gesucht. Aus empirischen Untersuchungen in den Betrieben entwickelte sie ihre Kritik; sie entdeckte einen Gegensatz, in dem der Produktionsprozess sich als Konflikt um das Wissen darstellt, als ein tägliches Ringen zwischen den Direktiven der Leitung und den selbst organisierten Prozessen im Arbeitsvorgang, wobei die Direktion auf ihrer Seite in zunehmendem Maße Unfähigkeit, Inkompetenz, Willkür und Verantwortungslosigkeit ansammelt, während die Arbeiterschaft sich mit Erfindungskraft, Witz, Solidarität und konkreter Kenntnis der Fabrikation bewaffnet. Diese Zuspitzung widersprach dem offiziellen Bild der Arbeitswelt und benannte die materialistische Basis für eine revolutionäre Perspektive, die Selbstverwaltung in den Fabriken durch den Aufbau von Arbeiterräten. Leider sahen die Möglichkeiten der Agitation vor Ort dann doch etwas anders aus. Es gab nicht viele Arbeiter, die der mächtigen, KPF-treuen Gewerkschaft die Herrschaft über die Politik in den Betrieben wirklich streitig machen wollten, und die wenigsten widerstanden auf Dauer dem täglichen Druck der Mehrheit oder konnten mit eigenen Beiträgen aktiv in der Redaktion kleiner oppositioneller Fabrikzeitschriften mitwirken. Sie suchten ihren Platz in der hierarchischen Ordnung und genossen deren Schutz. Eine Hierarchie des Wissens beherrschte auch die Diskussionsstruktur bei den Versammlungen von Socialisme ou Barbarie (S. ou B.), selbst wenn ihr theoretischer Anspruch mehr als in anderen linken Organisationen die Orientierung auf die Wirklichkeit und das Wissen der Arbeiter forderte; so blieb von den guten Absichten nur die karge Ausstattung der Zeitschrift, die bewusst auf das Erscheinungsbild der selbst gemachten Basisorgane abgestimmt war.

Als Guy Debord sich 1958 in der politischen Linken umschaute, mag er einerseits nach einem Gegengewicht gesucht haben zu der Deutlichkeit, mit der die Situationistische Internationale - hauptsächlich wegen der Initiativen von Asger Jorn - auf der kulturellen Bühne Europas präsent war und identifizierbar wurde; spätestens 1959 ist sie die beweglichste und aktivste Formation im Bereich der modernen Kunst. Andererseits darf man nicht vergessen, dass Charles de Gaulle sich im Mai 1958 an die Spitze des Staates geputscht und der Linken ihre Machtlosigkeit demonstriert hatte. Zwar skandierten am 28. Mai in Paris 350 000 Menschen »De Gaulle ins Museum« und »Die Giraffe in den Zoo«, aber der alte General kam an die Macht und verlängerte den terroristischen Kolonialkrieg in Algerien um weitere vier Jahre. Unter dem Eindruck der skandalösen Umstände, die das Ende der Vierten Republik gebracht hatten, erhielten die Kreise der radikalen Linken enormen Zulauf und wurden zum Handeln gedrängt. Auch Debord glaubte nun, trotz großer Vorbehalte - »Die Denker der Linken sagen, alles muss radikal neu gedacht werden, und nie zuvor war ihr Denken banaler« - sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Der ersten Nummer der Internationale Situationniste hatte er eine Erklärung zur aktuellen Entwicklung beigefügt: »Bürgerkrieg in Frankreich« dokumentiert, mit welchen Einschätzungen Debord in die Auseinandersetzung eintrat. Anfang August kam es zur ersten öffentlichen Konfrontation zwischen ihm und den führenden Köpfen von S. ou B.: »Sie scheinen zu glauben, ich sei nur gekommen, um sie vom Thron ihrer Macht zu stürzen und danach an ihrer Stelle über die Unschuldigen zu herrschen. Um meine Vertrauenswürdigkeit in Zweifel zu ziehen, gab man 20 bis 30 mal zu verstehen, ich hätte wohl das Mandat irgendeiner Partei. Sie taten sogar so, als müssten sie befürchten, ich würde der Versammlung mit Sabotage drohen (Ich war in Begleitung von zwei algerischen Genossen).« Debord warnte vor dem Faschismus, reklamierte das Ende der bürgerlichen Demokratie und konstatierte den Zusammenbruch der Linken. Seine Gegenspieler warfen ihm Unwissenschaftlichkeit vor, denn die Geschichte wiederhole sich nicht, und die Arbeiter bräuchten keine demokratischen Vertreter; ohne falsche Repräsentanten könnten sie ihre Interessen viel besser erkennen. »Diese Leute sind in einem erschreckenden Maße Mechanisten. So wenig marxistisch wie es geht: Ouvrieristen. Es nimmt sogar religiöse Züge an: Das Proletariat als deus ex machina. Seine Wege sind unergründlich; die Intellektuellen haben sich ihm anzuvertrauen und können nur abwarten. Wie ihnen also begreiflich machen, dass das Haus brennt?«

Erstaunlicherweise verging mehr als ein Jahr, ohne dass in Debords Briefen von weiteren Begegnungen mit S. ou B. die Rede war. Auf Initiative von Daniel Blanchard kam es jedoch zur Annäherung und die Auseinandersetzung wurde dann überraschend verbindlich. Blanchard und Debord verfassten gemeinsam den im folgenden (ab Seite 3) abgedruckten Text. Die »Vorverhandlungen« waren als eine Basis angelegt, auf der die beiden so grundverschiedenen Organisationen eine Einigung finden sollten, ein Intellektuellenzirkel in Betriebsklamotten und eine Künstlergruppe, die dem revolutionären Projekt einen technoiden Glanz verlieh, neben dem sogar kostspielig gedruckte Industrieverbandsorgane veraltet wirkten.

Produzenten der modernen Kultur

Es mag manchen als eine Kaprice erscheinen, den Text von 1960 heute abzudrucken, und wer will, kann ihn sich als historisches Wundertütchen vornehmen, um darin Bonbons eines ungewöhnlichen Weitblicks zu entdecken. Andere werden womöglich die hölzernen Schwerter des klassenkämpferischen Vokabulars einfach nur anstaunen. Er wird hier aber erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht, weil er zu einem Einigungsversuch gehört, der nur selten unternommen wurde und nicht gerade weit geführt hat; er handelt also von Schwierigkeiten, die seit langem wirksam sind. Außerdem werden in den »Vorverhandlungen« einige noch ziemlich grobe Werkzeuge erprobt, die später - zum Beispiel bei der Herstellung des Begriffs der Autonomie oder der immateriellen Arbeit - sehr viel feiner entwickelt wurden.

Die S.I. verstand sich als ein Kampfverband, der die Produzenten der modernen Kultur mit ihrer Proletarisierung vertraut machen wollte; der ungewöhnlich materialistische Ton und die rigiden Umbenennungen ihrer Botschaften setzten im Bereich der Kunst zwar unmissverständliche Signale, aber die Situationisten befassten sich nicht so sehr mit der Beschreibung des Elends der Produktionsbedingungen, also etwa der in ihr eingetragenen Hierarchie, sondern setzten den Gegensatz von der Seite des Produkts unter Spannung. Sie entwarfen Praxisfelder und forderten Kunstwerke, die den technologischen Stand der Industriegesellschaft als ein Minimum der im Einsatz befindlichen Mittel wollten. Von der Höhe dieses Anspruchs sollte die gängige künstlerische Praxis als ein Bereich der Unterwürfigkeit und des Verzichts erscheinen. Im Kontrast zu ihren ungezügelten Entwürfen mussten die wesentlichen Verdrängungen der herkömmlichen kulturellen Praxis in aller Deutlichkeit hervortreten, konnte die Boheme als unmoderner Konformistenzirkel und eine wirklich freie, zeitgenössische Vorstellungskraft als etwas Verbotenes gezeigt werden; ein gleichermaßen ernstes wie luzides Spiel, zusammengesetzt aus Zeichen ungewohnter Disziplin und völliger Unberechenbarkeit.

Unter dem Eindruck der Untersuchungen von S. ou B. wurde die Kritik der kulturellen Produktion nun auf die Produktionsbedingungen selbst gelenkt, sodass auch in der Form anschaulich wurde, wie das Wissen dort von der hierarchischen Gewalt des Kapitals kontrolliert wird, wie weitgehend also künstlerische Verwirklichungen oder kulturelle Produkte von den Machtverhältnissen gestaltet sind. Diese Analyse handelt eigentlich nicht nur von Künstlern oder Schriftstellern, sondern in einem sehr viel umfangreicheren Sinn von kultureller Produktion, jenem Bereich, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Dynamik entfaltet und mittlerweile eine Bedeutung erreicht hat, wie es 1960 nur im Ansatz sichtbar war. In den Zentren der westlichen Welt durchdringt dieser Kultur schaffende Bereich die Arbeitsbedingungen, und er wird von Arbeitsbedingungen durchdrungen, so dass es mittlerweile zu den entsprechenden ökonomischen Konsequenzen kommt, den Effekten der Privatisierung des öffentlichen Auftrags. Heute ist die Hierarchisierung der Kultur ebenso selbstverständlich wie damals, und das Kultur produzierende Proletariat sollte sich nicht nur gegenüber den Selbstverständlichkeiten der geforderten Produkte - ob es nun das Schönheitsideal leistungsfähiger Körper, die Omnipotenzphantasie zwischen den getrennten Geschlechtern oder die Lust am Schaden anderer ist - ein Befremden bewahren. Mehr als die elenden Ideale der Angestellten verdienten die Selbstverständlichkeiten der hierarchischen Struktur ihr Unverständnis - und organisierten Widerstand. Was wirklich möglich ist und was passiert, was gewollt und was letztlich hergestellt wird, welche Energien aufgerufen werden und worauf Entscheidungen zielen, wenn Filme, Texte, Bilder, Zeitschriften, Wissenschaft, Musik, Ausstellungen, Bücher, Veranstaltungen, Nachrichten etc. in Arbeit sind, ist nicht nur immer noch eine Frage der Macht. Es ist ein Kampf, der um das Wissen und seine Bedingungen geführt wird, mit der Mobilisierung der Wünsche, des Vergnügens und der schönen Gruppenerlebnisse ebenso wie mit Erniedrigung, Vereinzelung, Verdrängung der Zuweisung von Schmerzen und Schweigen. Die Frage, warum also die Enteignung und Demütigung in den Leidensgemeinschaften der hedonistischen Teamarbeit jeden Tag von neuem nach Anlässen für ihre Inszenierung suchen, kann dieser alte Text in seiner ganzen Grobheit und mit vielen nur angedeuteten Konsequenzen um einige Antworten bereichern.