Vom Original durch die Kopie zur Erfindung: Ein Veranstaltungsprogramm

Wiederholungstäter, Replikanten, Tiere der Theorie

Seit dem 30. Juni 2000 ist ein Haus in der Oskar von Millerstraße in Frankfurt am Main der Schauplatz für eine permanente Einführung in die Kunst des Zwischenfalls. Planung, Durchführung und Verfeinerung von Veranstaltungen verdichten sich hier zu einem Abend- und Nachtprogramm, das Dekorationen mitsamt Klang- und Bildzubehör (sowie Anwesenheit der Gäste) als transportable (bewegliche), imitierte (vorgeführte) oder nachgebaute (gespiegelte) Elemente zur Verfügung stellt - zugunsten der Vermehrung des Vergnügens an der Gegenwart. In unzuverlässiger Folge, aber mit selbst verordneter Vorliebe vor allem an solchen Wochenenden, die als markantes Ereignis im städtischen Terminplan abgelegt werden, zum Beispiel als ein Bündel von Vernissagen oder Ähnlichem, projiziert sich dieser Anlaufpunkt ins Kulturangebot, allerdings in einer verzögerten Projektion, denn in der Oskar von Millerstr. 16 geht es um die Präsentation von Kopien. Hier werden Innenraumidentifikationen im Containerformat verdoppelt oder verschoben. Was sich als das Original eines Kunst-, Kultur- oder Konsumereignisses an einer anderen Stelle auf den Koordinaten von Zeit und Raum eingefügt hat und dort behaupten will, findet in der von Millerstraße seinen gegenständlichen Schatten. Als verlängertes Profil erhöht das Duplikat die Begehbarkeit der Konstruktion des Ausgangsmotivs. Gewöhnlich haben Ansichtsseiten oder Benutzeroberflächen aus erster Hand den Nachteil, ihren Gebrauch auf einen vorgesehenen Zugang zu beschränken, und in dieser Funktion stehen sie dann mehr oder weniger still. Das Plagiat rückt die Vorlage ihrer Verwendung näher und bietet sie - ebenso zerlegt wie aus ihren Fragmenten zusammengebaut - wie ein offeneres Gelände an. Deshalb wählt die Oskar von Millerstraße mit der Wiederholung den Genuss, agiert in den Passagen der Aufzeichnungs- und Übertragungstechniken, stört die weit verbreiteten Affekte der Kontrolle und entwickelt einen Treffpunkt der Sabotage im Auftrag der Schönheit. Hier werden utopische Menschen in Umlauf gebracht.

Der Name der Lokalität verdoppelt also nicht zufällig den ihr vom Stadtplan zugewiesenen Ort, aber die Oskar von Millerstr. 16 muss sich auch in einer Stadt positionieren, die ihre Zeichen und Dimensionsangaben in merkwürdiger Weise beständig widerlegt, unfähig, sich zwischen zu großen oder zu kleinen Erscheinungen einem angemessenen Format anzunähern. Die Bilder der Skyline beispielsweise: Jeder kennt sie als die imposanteste deutsche Großstadtsilhouette, und dennoch bewachen die Wolkenkratzer mit ihren bunten Zipfelmützen im Grunde nur ein beschauliches Städtchen; will man es jedoch mit den Erfahrungen der Provinz oder wie ein überschaubares Viertel durchstreifen, zeigt der öffentliche Raum ein engstirniges Geflecht fest aufgestellter Abweisungen. Die unbeweglichen Details der Gehwegmöblierung gehören allesamt einer anderen Geschwindigkeit, als müsse es an jeder Stelle um sehr viel mehr gehen, also wahrscheinlich vom Rand des Waschbetonblumentopfs direkt auf die Autobahn. Mehr als in anderen Metropolen hat sich das Layout von Plänen der Realität bemächtigt. Man nehme nur die Verrundungen in den Konturen breiterer Straßen; wie sie sich auf dem Boden der Wirklichkeit als glatt durchgezogene Grundlinien unsichtbarer Mauern niedergeschlagen haben, die zu durchschreiten (oder übertreten) nicht vorgesehen ist und nur ausnahmsweise oder vorläufig an einigen wenigen eingezeichneten Stellen gestattet wird.

Die Oskar von Millerstraße liegt innerhalb dieser Gegebenheiten relativ zentral, irgendwo im Dreieck zwischen Main, Portikus und U-Bahnstation Ostendstraße, ein Haus in seiner Warteposition vor dem schon datierten Abriss, provisorisch und deshalb günstig vermietet, am Rand der Verkehrsfunktion Durchgangsstraße und nicht weit von langsam näher rückenden Versprechungen aus der Zukunft: »New York und New Orleans, jetzt in Frankfurt. Der Erfolg geht weiter«. Es handelt sich um einen geräumigen Laden mit zwei großflächigen Schaufenstern, die das Veranstaltungsprogramm zunächst mit einem extrem ausladenden Blick begleiteten, als wollten sie über ihre Platzierung vor dem stark befahrenenen Außenraum beständig staunen oder das Innere komplett nach außen kehren. Zwischen Mitternacht und Morgen entsprach dieses Übermaß an Öffentlichkeit dem Übermut der Party mitsamt zustandstypischen Illusionen. Neuerdings sind die Fenster weiß ausgeblendet, sodass Innen und Außen nur noch den Kontrast zwischen Weiß und Schwarz wiederholen, der im übrigen sehr strikt als Gestaltungsprinzip bei Plakaten, Flyern, Einladungskarten, Dokumentationen, Bühnenshows, Wanddekorationen, Anzugstoffen und Text-Diaprojektionen bewahrt wird.

Die weißen Kreisflächen auf silbernem Grund während der Eröffnungsveranstaltung vor anderthalb Jahren boten sich insofern als schöner Zufall an. Was einige Wochen vorher von einem kalifornischen Künstler im Portikus zum 100. Ausstellungsjubiläum wie das Lichtspiel aus dem Inneren einer Diskokugel an die Wände gebracht worden war, erschien unmittelbar nach dem Abbau noch einmal in genau demselben Stoff, diesmal als Eröffnungsshow an den Wänden der Oskar von Millerstraße, also nur 200 Meter weiter, verkleinert auf die Maße der vorliegenden Räumlichkeit, seinerzeit eine Ausstellung der vier Künstler, die am Anfang für die neue Adresse in der städtischen Öffentlichkeit standen. Mittlerweile wird der Test des Kopierens im 84 Quadratmeter-Format hauptsächlich von Dennis B. Lösch und Michael S. Riedel organisiert. Mit dem feinen Unterschied zwischen einem Original, das sich irgendwo in der Ereignislandschaft der Stadt vorstellt, und seiner Kopie, zu der in die Oskar von Millerstraße eingeladen wird, geht es natürlich auch darum, was alles zu einem kopierbaren Gegenstand erklärt werden kann. Als beispielsweise der Literat von Stuckrad-Barre zur Buchmesse 2000 eine Lesung seines neuesten Produkts (»Black Box«) durchführte, war sie in der von Millerstraße für den nächsten Abend angekündigt. Sie erlebte in der etwas zeitversetzten Version ihre Vorführung wie ein allmähliches Verfertigen des Sprechens beim Zuhören und man legte zu diesem Abend eine Neuedition von »Black Box« vor, die nun allerdings im Unterschied zur Erstauflage zusätzlich all das enthielt, was der Autor seinem Buch während der Lesung als Unterhaltungseinlage hinzugefügt oder aus ihm gestrichen hatte.

Alle Veranstaltungen folgen mehr oder weniger definitiv der Kopieranweisung, eine Bedingung, die als Herausforderung angesehen wird, das Unmögliche möglich zu machen, wobei nicht nur Immobilien in Bewegung gesetzt werden, sondern das Imitat vor allem die optimale Übereinstimmung oder Autonomie erlangen soll, was sogar bis zur vollständigen Aufhebung der zeitlichen Differenz führen kann. Original und Kopie erscheinen gleichzeitig. Aber ebenso nachdrücklich wird in der Kopie die Abwesenheit des Originals präsentiert; zum beweglich gewordenen Bild gehört der Stillstand, zum Auftritt einer Band mit Instrumenten und Gesang das Standbild des Schweigens. »Legendary Orgasm« war in dieser Version zu sehen und mit »When the Who were later building up their supermod image« gingen die Frankfurter auf Tournee nach Hamburg und Berlin, um sich in den Konturen ihrer eigenen Vervielfältigung und dem Echo der Musik ihrer Vorbilder aufzustellen.

Die Kopieranweisung ist nicht nur offensichtlich unbegründet, unsinnig oder überflüssig; sie wird auch bewusst als ein unangemessenes Unternehmen praktiziert. Und wenn die Bedingung in einem Fall mit einiger Leichtigkeit erfüllt werden konnte - weil die Akteure sich mit einer schnell gemachten Kulisse zu helfen wussten und irgendwelche Übertragungsfehler mit ihrer Schönheit überspielten -, so sieht sich die bleibende Behauptung beim nächsten Fall schon wieder getestet, egal wie nah die Realisierbarkeit in diesem Moment ist. Das Gesetz der Serie gehört zur Praxis dazu; es garantiert, dass die Realität und das Unmögliche in keiner Annäherung aufgehen, dass also die Ansprüche, die von einem ans andere gerichtet werden könnten, ihre Lücke kennen lernen. Es schafft einen Zwischenraum, der seine Erfindungen sucht, Bewegung in den Zustand der Definitionen bringt und Zugang zu Konflikten konstruiert.

Hier eine Übung zur Einführung: Lassen Sie sich einen Kunstpreis verleihen, machen Sie die geforderte Sonderausstellung, geben Sie dem Angebot nach, am Eröffnungsabend im Anschluss an die Laudatio auch selbst einige Worte des Dankes ans Publikum zu richten, gehen Sie zu dem feierlichen Ereignis in angemessener Kleidung, bereiten Sie Tonbandgerät, Mikro und Kopfhörer vor, nehmen Sie die Ihnen gewidmete Festrede des Kulturdezernenten auf, treten Sie nach ihm ans Mikrophon, spielen Sie sich die aufgenommene Rede über den Kopfhörer ins Ohr, wiederholen Sie Wort für Wort, was Sie hören, achten Sie auf das Relief des Applauses.

Tendenziell verhält es sich mit der Beziehung des Originals zur Kopie wie in der soeben geschilderten Situation, die entsprechend der beschriebenen Gebrauchsanweisung einige Zeit vor der Eröffnung der Oskar von Millerstraße hergestellt worden war. Historisch gehören diese Techniken seit der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit zu jenen Überraschungen, die den Überzeugungen des kulturellen Geschehens ihre leichtfertige Beteiligung auf Glatteis präsentierten, vor allem - und wohl nicht zufällig - in London im 18. Jahrhundert. Von dort nahmen sie, personifiziert in der Figur des Dandy, ihren Weg ins nächste Jahrhundert, kamen auch hinüber aufs Festland, führten unter anderem zu den philosophischen Tücken der Malerei von Edouard Manet und spielten eine nicht unwesentliche Rolle bei der Erfindung von Dada und Surrealismus. Als proletarische Massenbewegung erlebten sie schließlich - wiederum in England - ihre Rückkehr in unsere nähere Vorgeschichte. Sie nannten sich Mods und entwendeten in den sechziger Jahren die Verfügungsgewalt über die Eleganz; sie stahlen die Zeichen der Schönheit ihrem gesellschaftlichen Stand und eigneten sich die Definitionsmacht über den Geschmack an. Die Codes dieser Bewegung gehören in der Oskar von Millerstraße zu den Selbstverständlichkeiten. Für einen großen Teil des Stammpublikums bilden sie den Rahmen, in dem das Spiel mit der eigenen Erscheinung stattfindet. Allerdings wird der Kult nicht einfach nur bewahrt oder den üblichen Normen bornierter Sammler unterworfen, sondern ihrer eigenen Konstruktion, der Aneignung durch Kopie, zurückgegeben. Mittlerweile haben die Experimente mit den Imitaten sich auf Filmabende mit abgefilmten Filmen ausgedehnt und die neueste Veranstaltungsserie transportiert ganze Clubs; präsentiert wurden inzwischen das »Robert Johnson« aus Offenbach und das »Atomic Café« aus München. Weitere europäische Adressen befinden sich schon auf der Bahn ihrer Projektion. Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen wird ihre Verschiebung in die Oskar von Millerstraße nicht verhindern können.